31.12.2010

Best of 2000-2010

Es gibt noch immer gute Musikalben. Das heißt musikalisch oder thematisch konsistente Kunstwerke. Die man gerne in einem durchhört. Oder wie man es halt beschreiben will; vielleicht hat eine Zeitschrift wie Spex eine ausführliche Definition anzubieten. Wo oft das Wort »subversiv« vorkommt bitte.

Ich habe es eilig. Um 16 Uhr gehe ich zum Tischdecken und Kellnern auf eine Ballveranstaltung der Hochnäsigen: a waiter hating the rich but taking their tips.

Für mich ist

das beste Musikalbum 1990-2000:
Weezer – [das blaue].
plus
Weezer – Pinkerton

Und das beste Musikalbum 2000-2010
Maximo Park – A Certain Trigger
plus
Maximo Park – Our Earthly Pleasures

Sonderehrungen 2000 (ca.)-2010:

Beck – Midnite Vultures: Schöne Songmetamorphosen
Adam Green – Gemstones / Buddy Braddley: Der lustigste und der lässigste Song
The Strokes – Is this it: Der coolste Song
Ryan Adams – New York, New York: Der flotteste Song, die schönste Hymne
Der Nino aus Wien – Holidays: Auch ein flotter Song und eine schöne Hymne
Ryan Adams – This is it: Bestes künstliches Rockalbum
Beck – Sea Change: Bestes künstliches »Singer/Songwriter«-Emo-Album
Smashing Pumpkins – The Everlasting Gaze: Am meisten nach S.P. klingender Song
Aimee Mann – Lost in Space: Bestes Album einer Frau (mein »Genderpreis«)
The Dust Brothers – Fight Club: Bester Soundtrack (finden auch deutsche TV-Redakteure)
Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski: Mozart KV 550, 551: Erfrischend
The Strokes – Room on Fire: Sehr wohl ein geiles Album!
Two Gallants – [self titled]: Eigentlich das zweitbeste Album 2000-2010.
Elliott Smith – New Moon
Madonna – Music: Auch schön zum Durchhören.
Two Gallants – Despite What You've Been Told (in Wien): Bester gefilmter Liveauftritt.
Sir Tralala – Erfrischendste Liveauftritte.

Ich lebe in (gewiss kleinkarierter) Angst, von so viel Musik durchströmt zu werden, dass ich mir Melodien und Songtitel nicht mehr merken, d.h. sie nicht im Kopf mir vorstellen, sie pfeifen und benennen kann; ich hüte mich vor music shopping und regelmäßigem Konzertgehen. Dass ich wenigstens diese Bands und, zum Ausscheiden aus dieser Wertung, ein paar andere kenne, verdanke ich zwei drei Freunden, die mich auf Neuerscheinungen aufmerksam machen und so meinen Musikhorizont erweitern.



07.12.2010

Ein sympathischer Generaldirektor (II)

JPMorganChase-Chef-Jamie-Dimon bemüht in dieser Rede und in diesem Gespräch den Begriff der »Shakespeareschen Tragödie« – sie sei bei Personalentscheidungen in Firmen zu vermeiden. Und er managt »with a sense of fatalism that discourages the setting of precise targets.«

01.12.2010

Poetische Prosa (III) / Radfahrgedicht (II)

Anthony Madrid dichtet. Auch dann, wenn er keine Gedichte schreibt. Er rühmt z.B. Chicago als tolle Stadt, in der er gut arbeiten könne: »My sprockets engage with the chain of Chicago very tightly and neatly, and the bike is driven forward at every touch of the pedal.« Dies Sprüchlein verdient, in Versform zu stehen.

My sprockets engage
with the chain of Chicago
very tightly and neatly,
and the bike is driven forward
at every touch of the pedal.

19.11.2010

Heurigenbänke in der Uni Wien

Man hofft, Studierende in die Gestaltung der Universität einbezogen zu haben, wenn man sie ein bisschen die Infrastruktur dekorieren lässt. Oder auserwählte Studentinnen Sitzmöbel entwerfen und die andern Studenten abstimmen lässt, welcher der Pläne produziert werden soll.
Für das Hörsaalzentrum am Campus zur Auswahl: stylishe Heurigenbank; innovative Heurigen-Eckbank mit etwas Lehne; eine Kombination aus diesen beiden; eine riesige Holzpercussion namens »Relax«.

Ich habe nicht abgestimmt. Keines der Modelle taugt etwas: Minilehnen sind Verarsche, die Holzpercussion ist eher was für John Cage und Simon Rattle, und das Sitzen auf Heurigenbänken ist unangenehm (das Zeltfestvolk weiß das und steht lieber auf ihnen).

Ich will einfach in den Fachbibliotheken auf bequemen Stühlen sitzen. Was großteils ohnehin möglich ist. Ich bin zufrieden. Man könnte noch Lederpolsterungen anbringen, wie in der Nationalbibliothek. Dort konnte ich immer lange gut sitzen (bis Johanna Rachinger diese breitschultrigen Söldner auflaufen ließ, in »Security«-Jacken, vor denen ich mich schäme, ein Buch aufzuschlagen).

Universitätsmanagement und Hochschülerschaft würden und können es aber nicht schaffen, standardmäßig mit Lederpolsterungen ausgestattete Fachbibliotheken politisch und sozial zu vermarkten.

Zum Schluss liste ich hier noch die Namen der Möbeldesignerinnen und einige Schlagworte ihrer Kampagne auf, damit neugierige Googlerinnen vielleicht zu diesem Eintrag gelangen.

Tina Wintersteiger, Elisabeth Zeininger, Student Space, Meine Idee, Flexible, Loop, Floop, Relax, Geometrie des Raumes, Kaffeeecke, Statements, Formrohr, Arbeitstisch, Sitzlandschaften

...naja, halt das übliche Vokabular. Ich habe schon auf dem Gymnasium feierlichen Einweihungen neuer Kaffeeecken beigewohnt.

I

...wenn die Fahrradfahrer
uns vom Bordstein fegen....

18.11.2010

Zwei gegensätzliche Radfahrgedichte

Die Semantik professionellen Radfahrens ist in China positiv besetzt und ist dort in die allgemeine Hoffnung auf Wohlstand eingebunden. Ich bin auf zwei westliche, Radfahren beschreibende bzw. streifende Gedichte gestoßen, die vor gut hundert Jahren entstanden – als Industrialisierung und Mondialisation im Westen umgesetzt und die Menschen hier in einer vergleichbaren Situation waren wie heute die Chinesen. Wie stand die deutsch(sprachig)e Intelligenz zum Radfahren?

1. Fortschritt feindlich

Ferdinand von Saar stellt Fahrradkleidung – in der ich mir, hoffentlich adäquat interpretierend, Profis, Tüftler und ehrgeizige Dilettanten vorstelle – in eine Reihe bemerkenswerter Reaktionarien und Einsichten:

Fin de siècle (1899)

So jagt hinein denn jauchzenden Größenwahns
Mit Korybantenlärm und in Fahrrad-Dreß,
Elektrisch und auf Flugmaschinen –
Jagt nur hinein in die nächste Zukunft!

Denn euch gehört sie – Männern der Überkraft,
Den letzten Fußtritt gebt der Vergangenheit,
Gebt allem Edlen, das ihr immer
Bitteren Hasses verlacht als Torheit!

Entrollt das Banner geistigen Strebertums,
Vermannte Weiber! Brütet erfindrisch aus
Die hohen Satzungen des lesbisch
zwitterverheißenden Frauenstaates!

Bekränzt mit Lorbeeren selber, ihr Künstler, euch!
Nicht in Gestalten, nur in Symbolen schafft –
Und im Verzückungskrampf der Ohnmacht
Lallt eure Lieder, ihr jungen Dichter!

Auf! Auf! Vorwärts, modernes Titanenvolk!
Ein neu Jahrhundert, sieh, es empfängt dich schon –
Doch nicht zum Siege: nur zum Taumel
Eines verworrnen Pygmäensturzes!

2. Fortschritt affirmierend

Richard Dehmel schreibt auf das Radfahren eine Hymne mit lässigen Szenen. Die Fortschrittspointe: Das Radfahren sei besser als was zu Goethes Zeit vorhanden war. Dass Goethe solche Gedichte schrieb wie jenes vom Harfner...

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte
[die den Menschen in ein »schuldvolles Leben« führen, näml. Inzest]

...liegt daran, dass kein Fahrrad vorhanden war: und so musste der Harfner in Wilhelm Meister sich umbringen, Goethe griesgrämig gehen oder, was er gar nicht so gern mochte, reiten; – und Schiller bei seinem manischen Flugpferd-Gehabe bleiben. Denn:


Wer niemals fühlte per Pedal,
dem ist die Welt ein Jammertal! 
Ich radle, radle, radle.

Wie herrlich lang war die Chaussee! 
Gleich kommt das achte Feld voll Klee. 
Ich radle, radle, radle.

Herrgott, wie groß ist die Natur! 
Noch siebzehn Kilometer nur. 
Ich radle, radle, radle.

Einst suchte man im Pilgerkleid 
den Weg zur ewigen Seligkeit. 
Ich radle, radle, radle.

So kann man einfach an den Zehn 
den Fortschritt des Jahrhunderts sehn. 
Ich radle, radle, radle.

Noch Joethe machte das zu Fuß, 
und Schiller ritt den Pegasus. 
Ick radle!

3. Für welches Gedicht vote ich?

Für Dehmels. Man kann es ruhig naiv als ehrlich gemeinte Hymne lesen. Man kann darauf verzichten, über das Berliner Lokalkolorit am Ende zu grübeln; da mag vielleicht tieferer Sinn sein, aber den lassen wir schlummern.
Zu solch erbaulichen Texten sind die Deutschen immer noch fähig: Ich denke an ein Lied der »Ärzte« – »....Gestern ging es allen dreckig, heute geht es steil bergauf; jeder hat sechs Richtige, alle sind total gut drauf....«; und ich denke an Rafael Horzon, der, aus tränennassem Bett, zu neuen Taten aufstand, aus seinem Leben »einen bedeutungsvollen Text gemacht« und, weniger life-as-literature-artig gesprochen, ordentlich Geld verdient hat.

Zum Verlierer. Von Saar hat es von vornherein schwer bei mir gehabt, denn er ist adeliger alter Wiener. Diesen Menschentyp haben Weltgeschichte, Richard Strauss und Vladimir Nabokov mir für immer als Archetypen des Uncoolen verklärt. Meine Voreingenommenheit ist unfair, aber plausibel:

Weltgeschichte – davon habe ich mir nur gemerkt, dass ein alter Austriakenkaiser uns in die Scheiße geritten hat.
Richard Strauss – umgibt gute Personen mit böser Musik (Salome, Elektra) und böse Personen mit dem himmlischsten Walzer (Ochs von Lerchenau) [Susan Sontag hat eine gewisse Aufführung in ihre Camp-Liste aufgenommen, damit coole Städter ja wissen, dass sie sich vom uncoolen Wiener Schleim distanzieren müssen].
Vladimir Nabokov – besetzt den Roman Pnin mit lauter unsympathischen Professorengestalten, darunter »the newly imported Austrian scholar, Dr. Bodo von Falternfels«.

Zudem schreibt Nabokov in seinen Berliner Tagebüchern, dass die Straßenbahn etwas Altmodisches an sich habe. In den 1920ern eine verdammt coole Aussage. Wer möchte nicht die Erscheinung der Tramway lieber als etwas Altmodisches erlebt haben – oder meinetwegen (wie, glaube ich, Nietzsche in Turin) als Entzückendes –, denn als fürchterliche »nächste Zukunft« (»Elektrisch und auf Flugmaschinen«)?

Zusammenfassend kann ich sagen: Richard Dehmel schafft es in seinem Gedicht, Radfahren als etwas Entzückendes darzustellen, Freude an einer neuen Menschenerfindung auszudrücken.

Ferdinand von Saar stellt das Bild vom »Fahrrad-Dreß« in eine Aufreihung von Neuerscheinungen, die ihn nichts angehen und die ihm angenehmen, liebgewonnenen Dinge, »alles Edle«, verdrängen. Sie tun dies »jauchzenden Größenwahns« und »hineinjagend«; Saar gebraucht eine Sprache hoher Geschwindigkeit, bemüht die Idee des »Veloziferischen«. Er betreibt aus zurückgelehnter Perspektive Kulturkritik. Das Phänomen des Radfahrens kann er dadurch nicht lobend würdigen. Er stellt sich außerhalb des Kreises der Velopeden, wie einst Roland Barthes, wenn er Mythen dekonstruierte: »Die Tour de France, den guten französischen Wein entziffern, heißt sich von jenen absondern, die sich daran erfreuen.«

12.11.2010

Friedensbrücke: Früher Natur, jetzt Idylle

Beim Spazieren in der Wiener Hauptbücherei fiel mir Alfred Pausers Kompendium »Brücken in Wien« in die Hände, das über die Errichtung der Friedensbrücke im Jahr 1924 berichtet:

»Im Unterschied zur alten [der Brigitta-] Brücke war bereits in der Ausschreibung die Anordnung des Tragwerkes unter der Fahrbahn bedungen worden und dies trotz der damit verbundenen höheren Kosten. Man wollte den freien Ausblick auf den Leopoldsberg und Kahlenberg nicht durch die nüchtern wirkenden eisernen Tragwände stören.«

Demnach wurde hier, durch Zahlen eines höheren Preises, die geilste Technik belohnt: nämlich eine Lösung, die ihre gesteigerte Komplexität vor dem Laien verbirgt; »nüchtern wirkende« Tragwände sollten von einem noch besseren Gestell ersetzt werden; die noch größere Nüchternheit dieser Lösung sollte sich nicht protzig mitteilen; –– so wie der Athlet Pete Sampras, nachdem er in den 1990ern zu Nike umgestiegen war, seine Muskeln unter lang geschnittenen Hosen versteckte, während Thomas Muster den altmodisch gewordenen kurzen Shorts treu blieb, die so schön zu seinem kämpferischen Betragen passten ––; der passierende Laie sollte sich an dem Ausblick auf die Natur erfreuen können –

der Brückenbau folgt Funktionalität, Ingenieurskunst und einem Hang zur Natur

(aus welchen Gründen die Natur hier der Rechtfertigung dient, kann ich auf die Schnelle nicht eruieren. Ein niederer Grund wäre Eskapismus, wie Nietzsche ihn beschrieben hat [à la man sitzt jetzt den ganzen Tag im Büro und will hinaus in die Natur; früher in der unterhaltenden Gesellschaft am Hof Ludwigs XIV hätte es das nicht gegeben]; ein erhabener Grund wäre, wenn man sich in der Nachfolge des Turmsteigers Goethe sieht und sich auch auf Brücken einen Überblick über die Gegend verschaffen möchte; [noch durchzudenken ist das Ganze aus Heideggers »Geviert«-Totalperspektive, insbesondere im [Brücken-] Essay »Bauen Wohnen Denken«).

Mit der Renovierung der Friedensbrücke – ich begleitete kritisch – ist eine andere Stadtbau-Maxime umgesetzt. In einer Neuauflage wird es über die heuer erfolgte Renovierung heißen müssen:

»Trotz der damit verbundenen höheren Kosten wurde ein höheres Geländer angebracht. Man wollte erstens eine/n Künstler/in subventionieren und gab zweitens einer pazifistisch-naiven Vorhaltung lieblicher Friedenstauben im Geländerglas die Priorität vor dem nüchternen freien Ausblick auf Leopoldsberg und Kahlenberg.«

02.11.2010

Ampeltunnelblick und Ampelblick

In diesem Blogeintrag geht es um das leidige, peinliche Thema »bei rot über die Straße gehen«. Aber ich hole da was Erbauliches raus.

1. Dummheit neu beschreiben
Bei rot aus Prinzip nicht über die Straße gehen ist eine Form von Dummheit (Medium: Mensch). Es gibt ein schönes neues Wort für dumme Menschen. Ich habe es in der deutschen Filmversion von Juno und im Roman Tschick gefunden; man darf es als gebräuchlich ansehen und selber verwenden: dummer Mensch ist einer, »der nicht die hellste Kerze im Leuchter ist«. Diese Neubeschreibung erzeugt fruchtbare bildliche Überlegungen zu besagtem Thema.

2. Die Neubeschreibung als eigener Fall
Gesetz der Physik ist, dass gesehen werden nur das kann, was leuchtet oder beleuchtet wird: »It’s always night, or we wouldn’t need light«, sagte Thelonious Monk (via Thomas Pynchon). Der Mensch ist seit mehr als zweihundert Jahren aufgeklärt. Man nimmt an, der Durchschnittsmensch ist »angezündet«: Er leuchtet von selbst.
Tun aber nicht alle! Die finstern Kerzen pflanzen sich fort. Die Dummheit wächst in ihren Kindern weiter. Dunkelheit bleibt bestehen. Night prevails. Das Feuer der Aufklärung war bislang außerstande, diese Kerzen anzuzünden.
Sie bedürfen weiterhin der Anleuchtung. Das Licht ist ausgelagert. Beispiel Straßenverkehr: Anstatt im eigenen Bewusstseinssystem eine Leuchte zu haben, die einem sagt, wann man die Straße überqueren kann, hat der Dumme seine Leuchte in der Verkehrsampel. Schaltet diese auf grün, geht er los. Sein Tun und Lassen wird geführt von einem Tunnelblick auf eine Ampel, der 99,5% des Sehfeldes – wo es zu entdecken gäbe, ob denn überhaupt ein Auto in Anfahrt ist – außer Acht lässt.

3. Recherche in der Literatur
Weshalb das Befolgen der Ampel dumm ist und was für einen aufgeklärten Umgang mit ihr erforderlich ist, hat Karl Heinz Bohrer bereits geschrieben. Ich zitiere die ganze Stelle aus seinem 1991 im Rahmen seiner »Provinzialismus«-Kolumne und 2000 in einem danach benannten Sammelband erschienenen Essay:

»In einer hochangesehenen liberalen Traditionszeitung der noch immer schönsten unserer Rheinstädte war kürzlich die Wehklage darüber zu lesen, daß immer mehr Fußgänger sich beim Überqueren der Straßen nicht an die Verkehrsampeln halten, es deshalb zu vielen schweren Unfällen komme und das in Aussicht gestellte scharfe Eingreifen der Polizei gegen solche die Ampeln mißachtenden Fußgänger nur zu begrüßen sei. Ich erinnere mich an eine der ersten Deutschland-Nummern des amerikanischen Magazins Life nach dem Kriege, in dem der noch immer manifeste »Kadavergehorsam« der Deutschen, ihr fragloses Befolgen öffentlicher Anweisungen unabhängig ihres Sinns oder Unsinns daran abgelesen wurde, daß sie auch dann nicht bei Rot die Straße überquerten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen sei.

Zweifellos überlebt der Verkehr der großen westeuropäischen Metropolen nur unabhängig von den Regulationen der Verkehrsampeln. Das setzt ein zivil sensibles Verständnis zwischen Autofahrern und Fußgängern voraus, ein gewisses Augenmaß intelligenter Improvisation jenseits der Regeln, und einzelne westdeutsche Großstädter, besonders die jüngeren, beginnen sich so, nämlich urban, zu verhalten [Hervorhebung IWBL]. Offenbar wird es aber vom System nicht zugelassen, und die journalistischen Tugendwächter einer Ideologie des gefahrlos Netten geben dem ihren Zuspruch.«

4. Phänomenalisierung
Ich finde diesen Gehorsam auch noch im Jahr 2010. Und zwar in Wien. Ich liste auf, wann und wo mein und anderes urbanes Verhalten vom Pöbel beschimpft wurde:
• Fuhr in Wien ca. März 2010 mit dem Rad von der Avedikstraße kommend bei rot rauf zur Schmelzbrückenrampe; junge männliche Stimme rief, in Wiener Dialekt, mir hinterher: »Bist farbenblind?«
• Fuhr in Wien Okt. 2010 mit dem Rad über die gesamte Mariahilferstraße, ohne auch nur einmal vor einem der niedlichen Zebrastreifen für Shoppers und Shopping Sherpas stehen bleiben zu müssen. Das missfiel einer verwahrlosten, aus einer Dose Schwechater Bier trinkenden Frau mittleren Alters; sie kläffte, in Wiener Dialekt, mich an: »Bist farbenblind?«
• Las im Okt. 2010 auf Facebook diese Meldung eines (Wiener) friends, der 20 Euro Strafe zahlen musste, weil er »Verhalten eines Fußgängers« (?) an den Tag gelegt und die Straße bei rot überquert hatte. Um halb drei in der Nacht.
Zusammenfassend kann ich sagen: Es gibt wirklich diese schamlosen Denunzianten in Wien, und es sind, curiously enough, Einheimische, d.h. de facto Städter. Wenn, nach Georg Kreisler, Wien erst ohne Wiener schön wäre, ist Wien erst ohne Wiener eine Metropole!
Die Polizei ist ebenfalls tatsächlich so bescheuert. Aber dazu habe ich von einer eigenen Begegnung zu berichten. Und die ging nicht derart peinlich und finanziell katastrophal zu Ende wie jene meines friends; nein, sie verlief heroisch, und ich muss weit ausholen, bevor ich sie schildern kann.

5. Ästhetik des Widerstands
Karl Heinz Bohrer ist ja Gott sei Dank in seinem Leben nicht alleine damit beschäftigt gewesen, die Dummheiten seiner Landsleute zu beschreiben. Bohrers »große Leistungen« sind literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu romantischen Texten und Texten der klassischen Moderne von Baudelaire bis Ernst Jünger.
In einer seiner Abhandlungen nennt er die Gewaltausbrüche in Heinrich von Kleists Erzählungen als Merkmal von dessen »frappierendem Stil«. Kleist wollte erschüttern. Er spitzte seine Handlungen auf eine Gewalttat zu. Oft, darauf weist Bohrer hin, werden sie von geradezu gewalttätigen Blicken begleitet. Z.B. in der berühmten Schlussszene von Michael Kohlhaas: Bevor Kohlhaas den Zettel verschlingt, hält er »das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet«. Erst mit diesem Blick macht er erkennbar, wem sein finaler Gewaltakt, das Vernichten des Zettels, gilt.

Ich teile nun stolz mit, dass auch ich von einem Polizisten in betreff Verkehrsampel angepöbelt wurde – und in frappierendem Stile antwortete. Ich will versuchen, den Hergang dieses Ereignisses zu schildern, als ob ich Kleist wäre:

»Ich kam, abends, vom Supermarkt, und blieb an der Kreuzung, die ich täglich, ruhig und routiniert, kreuzte, und deren Ampelordnung ich, gleichsam wie meine Jackentasche, kannte, zunächst stehen, da aus der Ferne ein Audi, mit lautem Geräusche, heranzog, und ich wusste, aus Lebenserfahrung, wie schnell solche Raser, das Auge täuschend, zur Stelle sind. Als, wie ein Pfeil, der Audi vorbeigezischt, setzte ich mich in Bewegung, und ging, von keinem Schafe rings um mich nachgeahmt, hinüber, auf die andere Seite; und war dort, weiter in Richtung meiner Wohnung, einige Meter unterwegs, als aus dem Auto einer Polizeistreife, dessen Fensterscheibe gleichmäßig, durch elektronische Motoren, hinuntergezogen worden, ein Mann, mit kurzen Haaren, ein derbes, erzürntes Gesicht mir entgegenstreckte, und, weil ich derlei Hässlichkeiten aus Gewohnheit unbeachtet lasse, mir zurief, »da ist jetzt aber rot!« – worauf ich, in meiner städtischen Betragung verletzt, ein trotzig Wort mir überlegte; anstatt jedoch, wie endblöd, dem bellenden Aufrührer zurückzubellen, schwieg ich, und richtete, ohne Stehenzubleiben, mit einem kalten Blick, der »fick dich!« bedeutete, mein Haupt in Richtung Ampel, die, den Kollegen des Aufrührers zur Losfahrt zwingend, in, genau, diesem Moment, als Vervollkommnung meines Blickes, grün zu leuchten anfing.
Die Fensterscheibe wurde hochgeschoben, das Auto rollte ab, und von hinten kamen die Schafe.«

So gehört es sich.



28.10.2010

Fett weg!

Es fällt mir nichts ein und so greife ich zur Aktualisierung dieses Weblogs auf meinen Schatz zurück: das Archiv meiner Erzähltexte. Es befindet sich eine Ballade darunter, die sich schön an die für potentielle Leser hier bereits verwahrten Erzählungen reiht: In ihr entlädt sich wie in Vor Weihnachten und in Steuern runter! meine begrenzt zu Gefallendem fähige Fantasie in gar ungustiöser Form und unendlich miesen Reimen.

Fett weg!

Renée aß gut und nie zu knapp,
sodass ein Bäuchlein wuchs,
das träge wabbelnd, riesig schlapp
vom Bau der Knochen weit stand ab.

Renée war fett, sie war voll Speck,
und dachte sich: »der Bauch muss weg!«

Sogleich sah sie ein Titelblatt,
worauf die Kunde des Versuchs:
»Wer zuviel Fett zu tragen hat,
dem raten wir zu großer Tat,

die Fettbauch löscht, wie Bäum’ ihn fällt,
die Schmerz, doch dann viel Freude bringt:
da sie verhindert dass er schwellt,
und endlich sich nur so verhält,

wie Fels, der leicht im Winde schwingt,
wie Leder, das im Wasser gellt,
wie Taubheit, die auf Bühnen klingt,
und Ghandhi, der in Schlachten ringt.«

(Für Leser, die sich ausgeklinkt:
es sind paradoxales idées:
was nicht nur hinkt: nein auch was bringt:
Sie zeigen das, was nicht geht, klar.)

Ein Klotz, der hierzu beig'legt war,
erhöhte gleich die Lust Renées,
denn solche Goodies sind sehr rar,
und stelln den Zweck des Kaufes dar.

Ob Sternenspruch, der immer wahr,
Rezept für Ess- und Sexbaisers,
Ob Creme für Haut, ob Gel für Haar,
man zahlt mit carte und nimmt's für bar.

So lockt sie auch der Klotz, der schroff
und schwer beinahe runterfällt.
Nur dürftig hält ihn Klebestoff,
Renée greift zu und sagt, »ich hoff

er hält bis ich im Freien bin.
Der Text daneben sagt, dass ich
belasse, und erst löse ihn,
wenn draußen ich, und nicht mehr drin,

in Luft bin, des Versuchs Revier.«
Gesagt, getan, gehofft, gekauft,
getrieben von der Taillengier
geht sie hinaus, wir folgen ihr,

zum Parkplatz, wo sie halbnackt steht,
die Bluse bis zum Halse rauft
und ihrem engen Kleid entlädt
die Masse, die sich quallig bläht.

Die »Infobox« im Heft weist an,
wie richtig man den Schlankheitsgag
am Wanste zelebrieren kann,
worauf sich auch Renée besann:

Sie löst den Klotz vom Cover weg,
sie zwickt ihn in die Falte sich,
inzwischen zweier Schwarten Speck,
und spannt den Rest an Muskeln keck.

Da knallt der Klotz, da fliegt ein Dreck
aus Fett und Darm; ein Lebereck;
an Speckes statt ein großes Leck:
Erfolg gehabt – der Bauch ist weg!

24.10.2010

Man kann kein Wasser sparen. Lassen wirs fließen!

Wir hören vom Kreislauf des Wassers im Volksschul-»Sachunterricht«. Das Wasser fällt hernieder, auf Asphalt oder Erde; es verdunstet und sammelt sich in Wolken zu neuem Gusse oder es versickert und sammelt sich in unterirdischen Lagern. Von wo es aber »freilich« (würden Journalisten des Presschens besserwisserisch hinzufügen) irgendwann hervor in die Menschensphäre tritt: Als Bach, rinnend ins Meer; oder in der Form von Glas- und Plastikflaschen transportiert, uns tränkend. Sowohl aus dem Meere als auch aus unseren Körpern dunsten endlich wieder so viele Tröpfchen des Wassers empor, als zur Weiterführung des ewigen Kreislaufes nötig ist.

Wenn ich daher heute Morgen als braver Biedermann in der Krone den Text einer bezahlten Anzeige meines Lieblingssupermarktes »Hofer« lese; wohlwollend den vollbärtigen »Bio«-Manager Werner Lampert als meinen Herren und Meister identifiziere; seinen Appell vernehme, man möge »Wasser sparen«; darufhin mich der Bilder von dürren Kindern »Afrikas« entsinne; mein Gemüt sich verdüstern spüre (die Häufung des mürrischen Buchstabens »ü« zeigt es an); mich sodann frage: Wie kann ich helfen? wie kann ich meinem Herren gehorchen? wie kann ich das Kinderleide lindern? und wenn ich das Nahegelegte zu tun mir vornehme: »Wasser sparen!« –

dann hat das keinen Sinn. Es ist lächerlich. Es stimmt nicht. Man kann alleine bei der Wasserrechnung sparen. Jeder Liter Wasser, den ich nicht aus meiner Leitung lasse, staut sich in dieser; staut sich zurück; erhöht das Trinkwasserreservoir meiner Gemeinde (oder meines privaten Anbieters); verschlechtert die Qualität des Wassers (Story in brand eins) – aber es wird dieser Liter niemals das durstige arme Kindchen tränken. Das aufgesparte Wasser widerstrebt nicht seinem natürlichen, dem kürzesten Lauf; es dunstet nicht hin und fällt nicht dort ab, wo es dringend benötigt wird. Es gibt einen internationalen Abgas-Emissionenhandel, aber keinen Wasser-Nichtverbrauchshandel.

Lassen wir es fließen. Erfreuen* wir uns des Wassers, das der Zufall oder der Gott uns so gnädig bescheren.

Und für die Lösung des (sich ohnehin ent-präkarisierenden) Hungerproblems: finden wir – die klugen Naturwissenschaftler unter uns – angemessene Lösungen.





*Always water, the real thing: »Ich ziehe Orte vor, wo man überall Gelegenheit hat, aus fliessenden Brunnen zu schöpfen (Nizza, Turin, Sils); ein kleines Glas läuft mir nach wie ein Hund. In vino  v e r i t a s :  es scheint, dass ich auch hier wieder über den Begriff "Wahrheit" mit aller Welt uneins bin: – bei mir schwebt der Geist über dem  W a s s e r . . . « (Nietzsche: Ecce homo, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München: DTV, 1999, Bd. 6, S. 281

21.10.2010

Poetische Prosa (II)

Life sucks sometimes.
That's why we got straws.

(Im Original:
Coca-Cola Life sucks sometimes. That's why we got straws :-)
19 hours ago • 1336 comments 26093 likes • Comment • Like)

19.10.2010

Sorryisten (IV)

Christoph Grissemann will nicht verstehen, dass Désirée Nick ihren Auftritt im RTL-»Dschungelcamp« Kunst nennt, und sagt bei 3:48 in diesem Video das Zauberwort.

13.10.2010

Instantsuppe und Langeweilesuppe

Ich erweitere den Vertrieb meiner Geistesprodukte auf die Plattform soup.io, man findet mich hier. Ich kann da sehr einfach sehr schnell etwas »Sinnvolles« oder auch nicht-Sinnvolles (bei dem man dann aber fleißig nach einem Sinn sucht) erstellen. Besser gesagt: Wenn ich mich durchfallartig äußern muss – so wie andere das auf Facebook tun –, tue ich es auf soup.io. Ich habe alleine heute:

• Ein Foto von einem schönen Graffito hochgeladen.
• Eine Art tweet geschrieben.
• Einen Song hochgeladen, den ich selbst komponiert habe.
• Auf einen geilen Song der ansonsten durchschnittlichen, einfach nur japanisierten Punk spielenden japanischen Band Go!Go!7188 verlinkt.
• Ein Foto meines Kumpels flok kommentiert.
• Auf meine hiesige (Blog-)Abhandlung »chinesisches Radfahren« verlinkt.

Diese Aufspaltung hat wohl etwas mit Nietzsches Vorstellung eines Zweikammernsystems der Kultur zu tun. Man kann es auch »doppelte Buchführung über die menschlichen Geistesaktivitäten« nennen. Auf soup.io stell ich blind das mir Gefallende; hier denke ich darüber nach. Tue als ob. Z.B. über meine eigentliche Abneigung gegen Graffiti und darüber, weshalb ich diese Abneigung nicht zu einer generellen Empörung gegen dies oftmals pöbelhafte Kunsthandwerk disziplinieren kann. Auf soup.io mach ich Instantsuppe; Pulver und heißes Wasser; hier aber koche ich Leberknödelsuppe. In langwierig gebrauter Rindsbouillon. Erweiterung der Zutaten und der Zeit zur Zubereitung. Während des Kochens etwas anderes machen. Die Suppe sich entfalten lassen. Der Zutat eine Essenz entlocken, anstatt bloß einem Pulver durch Aufguss heißen Wassers zum intendierten Schicksal (nennen wir es »Themenkarriere«) verhelfen.
Das klingt alles sehr gut. Aber keine Angst, ich bin kein Angeber. Ich behaupte nicht, dass meine Rindssuppe in einem Haubenrestaurant serviert werden kann. Wird sie ja auch nicht! Darum geht es. Blogger kochen sich ihr eigenes Süppchen, gewöhnen sich daran, und es wird ihnen allmählich egal, dass es etwas Besseres geben könnte.

06.10.2010

Marschmusik macht mich geil

In Anhang zu diesem Eintrag noch ein vorwissenschaftlicher Anriss zu abgegriffenen Redensarten (»Floskeln«), wobei wir in der Literatur von Schreibarten reden müssen; und in der Musik eine Floskel eigentlich das Erhabenste ist, was es gibt.

Ich liebe dieses Phänomen: Eine Erscheinung, die sich bereits vor ihrem eigentlichen Auftritt und im Auftreten seine weitere Richtung offenbart; ich nenne es »Tauto-Phänomen«. Man findet es in Literatur und Musik. Man wird z.B. beim Durchblättern des Buches Vater Morgana keinen einzigen Satz finden, der nicht »erwartbar« sich liest, ein déjà-vu beschert, ein »déjà-lu«; man denkt: »So klangen meine geheimen Aufsätze in der Pubertät. Ich freue mich, dass ich über dieses Stadium hinweg will, und vielleicht sogar bin.«

Beispiele:
»Ich weiß natürlich, dass das total unfair ist,....« (S. 158)
»Nadja schlief neben mir. Ich sah sie an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann....« (S. 102)
»Wie sein Vater liebte auch er das Kino.« (S. 48)
»Ich war verzweifelt.« (S. 193)
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie wir diese zwei Wochen überstehen sollten.« (S. 193)
»Meine Mutter saß vor ihrem Laptop und hatte sich für eine Excel-Datei entschieden.« (S. 193)


Ich habe mich dazu entschieden, so nicht zu schreiben. Aber in der Musik ist es anders.


Hier fängt der Körper an, mitzumachen, wenn er eine »Tautophonie« wahrnimmt; die Musik ergreift ihn; die Kenntnis des Klangs, der Verlauf einer Melodie stimmt nicht ärgerlich und dünkt einem unoriginell, sondern weckt die Stimmung der Vertrautheit und löst den Ablauf eines lebensbejahenden Verhaltensmusters aus.
Bei mir sind es Märsche. Dazu kann ich dann – anstatt ausgeklügelt zu tanzen – »freilich nur« bodenständig mitwippen und verhalten mitdirigieren.
Aber welch eine Glücksepiphanie, und welche Tautophonie in meinem Kopf! Die Abfolge der Noten erblüht wie Tulpen auf einem LSD-Trip; ich fühle mich wie der »perfekte Zuhörer«; eigentlich ist erst die Benutzeroberfläche meines Gehirns der »Klangkörper«.
Wenn ich mich in die Liste der Menschen eintragen darf, denen Melodien und Harmonien ein Anlaufen von Tränen in die Augen zaubern können, werde ich als Auslöser einige Märsche angeben, die ich bei uns in Zembla* auf After-Church-Partys hören durfte; d.h. wenn der Musikverein nach einem liturgischen Hochamt den Kirchplatz bespielte, wo wirkliches Brot und echter Wein eingenommen wurden.
YouTube hat dazu noch kein würdiges Video. Man lese am besten Ludwig Tiecks Runenberg, die Beschreibung eines Dorfsonntages kann den empfindsamen Leser vielleicht in eine zu meinem Musikerleben analoge Glücksstimmung versetzen.


(Gesang zum Marsch finde ich übrigens nicht so gut. Verhaut die Stimmung und lässt prosaische und sokratische Gedanken einziehen. Manch einer wird z.B. über nationalistische Aspekte der Marschlyrics grübeln, anstatt seinen Körper hinzugeben. – Aber das ist vorerst nur ein gewollter Theorieanschluss zur Tango-Betrachtung Hans Ulrich Gumbrechts in seinem Epiphanien-Essay; ich muss das überprüfen, hoffentlich komme ich bald wieder auf ein recht »bauernschädeliges« Volks- oder Kirchenfest!)


Anmerkung:
*Ein Codewort für »Kindheit« und »Heimat« jeglichen daran mit Wehmut denkenden und diese gegen den Gedanken totalen Verlusts in einem Text heraufbeschwörenden Autors. Hat Vladimir Nabokov in Pale Fire erfunden.

Ich bin ein Loser

»Die Welt ist tatsächlich voller schlechter Autoren«, schlussfolgern die Veranstalter des Wettbewerbs der schlechtesten Geschichte der Welt, nachdem sie Suche und Auswahl »jämmerlicher Prosabrocken« abgeschlossen und zehn »hoffnungslose Nachwuchsautoren« in ein Finale nominiert haben. Ich bin leider nicht dabei. Mein Beitrag war eben doch irgendwie gut, obwohl abstruse Handlung und Einsatz abgegriffener Redensarten an strategisch wichtigen Stellen (mit Kennzeichnung) grottenschlechte und »das Grottenschlechte« reflektierende Unterhaltung bieten.

04.10.2010

Piazza San Marco

Bart Brands im Album des Standard: »Auf dem Markusplatz in Venedig wurden vor einiger Zeit alle Parkbänke entfernt. Wer sich heute hier hinsetzen will, muss dafür in Form eines Cappuccinos teuer bezahlen.« [2.X.2010, S. A4]

Nietzsche in Zur Genealogie der Moral (1887): »Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als ans Licht stellt; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel, dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein todtes, eins mit  A u g e n  (das heisst mit Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, – das ist hier Wüste“: oh sie ist einsam genug, glaubt es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog, so war diese Wüste würdiger, ich gebe es zu: weshalb  f e h l e n  uns solche Tempel? (– sie fehlen uns vielleicht  n i c h t :  eben gedenke ich meines schönsten Studirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10 und 12.)« [Kritische Studienausgabe, Band 5, München: DTV, 1999, S. 353]

Johann Caspar Goethe in seinem italienischen Reisebuch: »Der Markusplatz wird von der Kirche S. Geminiano und zwei Palästen begrenzt, welche die Alte und die Neue Prokuratie heißen. Unter deren Arkaden befinden sich Läden, in denen Kaffee und andere Getränke ausgeschenkt werden, so daß dieser Platz ein Zufluchtsort ist, wo man mancherlei Bedürfnis befriedigen kann.«
[Reise durch Italien im Jahre 1740, München: DTV, 1999, S. 26]

Demnach lesen wir in Vater Goethes (eher informativen als impressiven) Reisejournal, dass der Konsumwahn anno 1740 hübsch am Rand des Platzes »contained« wurde. Wir wissen aus der Lebenserfahrung, dass heute auch eine wesentliche Fläche des offenen Platzes von privately held coffeetables eingenommen wird. Wir sind zornig, dass Kaffeekonsum keine frei zu wählende Bedürfnisbefriedigung mehr ist, der man gerne nachgeht, sondern eine aufgedrängte Abzocke. Wir geben Bart Brands recht und sehnen uns nach den alten Zeiten!*


*Und pfeifen auf Professor Friedrich Schiller: Er sagt in seiner Antrittsvorlesung, die Universalgeschichte heile ihren ernsthaften Studenten »von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten«.

02.10.2010

Häupl passt mir nicht

Den Kopf dieses Eintrages wird einstmals, kurz vor der Wiener Gemeinderats- und Landtagswahl am 10. X. 2010, ein Foto zieren, auf dem ich, Autor dieses Blogs, auf der Friedensbrücke zu sehen bin; ein attraktiver 24-jähriger Blonder mit blaugrün glücklich funkelnden Augen; ein rotes, übergroßes T-Shirt tragend; mit übergroß meine ich Michael-Häupl-sized, XXXXL; und mit Friedensbrücke meine ich die renovierte Friedensbrücke, auf deren Südstirn ein neues, hohes, hässliches Geländer montiert wurde und auf deren Nordkante sogar ein noch höheres, hässlicheres Geländer prangt; – und auf dem T-Shirt wird stehen, in weiß, der Schriftzug: HÄUPL PASST MIR NICHT!

Warum dieser Protest?
Häupl passt mir nämlich nicht nicht. Häupl »an sich« passt mir – ich mag ihn als blaaadn, gscheadn Weintrinker, der zwei Mal den Mann ohne Eigenschaften gelesen hat.*
Mir passt nicht, dass bislang keine Partei und kein Mensch dieses oben beschriebene Leiberl produziert hat, obwohl es ja irgendwie aufgelegt ist.
Die ÖVP, solche Unoriginalos! – Bewerben den Häupl mit dem schönsten Foto ever taken of him (darüber gibt es schon einen Diskurs, z.B. Jeannée) und sagen »frischer Wind«, aber das sagen sie nur. Sie blasen ihm keinen.

Und so muss man selber auf das politische Feld gehen. Ich werde es tun.
Denn irgendwie passt mir Häupl eh nicht. Was auch der Hintergrund des Fotos ist. Das neue Geländer der Friedensbrücke ist eine lächerliche Kreation. In diesem Video ein Vorgeschmack auf das Südgeländer; auf dem zukünftigen Foto dann der blonde Blogger im roten Protestdress vor dem horriblen Nordgeländer. Diesen Umbau hätte die Politik verhindern müssen.
Der Bürgermeister hätte mit seinen Häuplfingern den Stadtbau-Verantwortlichen eine Watsche geben müssen (nicht erschrecken, Leser; denn in Sitzungen sind Politiker wie Häupl und Pröll nun einmal brutal und ihr Umfeld ist ihre Watschen gewohnt) und sagen müssen: »Des moch ma ned, med so an Schas va-ärgerst** nua de Leid!« Er hat es nicht getan. Daher passt er mir nicht.

Aber nichts für ungut, Michl – ich kann Sie eh nicht nichtwählen, Wien ist mein Zweitwohnsitz.

* Das mit dem Mann ohne Eigenschaften ist so eine Sache. Ich glaube, Häupl hat ihn nur einmal gelesen, aber damit man ihm das glaube, sagt er, er habe es zwei Mal getan.
Eine andere Möglichkeit, die Bewältigung dieses Buches zu beweisen, ohne gleich Mehrfachlektüre (oder es als »Hobby«) anzugeben, ist übrigens: in jungen Jahren lesen und staatlich beglaubigt darüber reden, z.B. bei der Matura. Hat ein Studienkollege von mir gemacht.

** Eine Anmerkung für Dialektforschungsamateure. Ein älterer Wiener hätte gesagt: »varrärgerst«. Dieses schöne Binde-rr ist aber passé, man hört es nur noch in Wohnungen mit ranzigen Tapeten und im Film Muttertag (als ins Nichts führendes, pseudo-Binde-rr: »Au Wehh, meine Kniarr!«).

Neokonservative sind Sofasamurais

Ist zwar bei uns in Europa out, über Neokonservative zu sprechen (man empört sich gerade über Aktion Teaparty), aber ich hab erst jetzt serendipitöslich diese Kolumne gelesen: Taki nennt im Spectator vom 5. März 2005 Neokonservative »sofa samurais« (»talk big but demand that others do the fighting for them«). Lustig! Und schön, sich bei der Lebenserfahrung zu beobachten: Da verfolgt man Medienberichte über eine Gruppe von Politikern, die einen Krieg anfangen und, will man Typen wie Naomi Wolf glauben, die USA an den Rand des Faschismus bringen; – dann kommt der berühmte Pendelschwung – die USA »heilen sich selbst«; der Pendler ist ein liberaler Präsident, ein Schwarzer, namens Obama; er schwingt an den Rand des Kommunismus (will man den Teapartyisten glauben) – – und längst vergessen sind die alten Neocons (»Falken«). Zu diesen entdeckt man dann noch ein verächtliches Epithet, das man während ihrer Machtblüte irgendwie aufzuschnappen verpasst hat – »sofa samurais« – – und, endlich, hat man ein Wort für das Etikett, das man auf seine History-Schublade geklebt und rastlos in seiner Blankheit betrachtet und provisorisch (mit Bleistift!) »Bush I, 2001-2004« und »Bush II, 2005-2008« betitelt hatte. (Oder zeitgemäßer: Desktopordner statt »History-Schublade«.)
Btfw (by the fucking way), Taki lesen lohnt sich immer wieder. Er schreibt eine Kolumne für »Europas beste Wochenzeitschrift« (Karl Heinz Bohrer) Spectator und macht sein eigenes Magazin.
(»Web-Magazin« oder »webzine« I should say; wir trauen uns noch nicht, die alleine im Internet, nicht auf Papier erscheinenden Medienprodukte mit den ehrwürdigen Namen des Gewohnten zu bezeichnen.)
Zum Wortstamm »serendipit-«, there's an upcoming Beitrag hier: Denn ein sehr ernster deutscher Blogger bildet sich ein, er habe das Wort in den deutschen Sprachraum importiert und ein Patent auf seine Benutzung – wird eine köstliche Geschichte.

30.09.2010

Ein sympathischer Generaldirektor

Der Chef der Linz Textil Holding, Dionys Lehner, sieht »Morgenröte in China.«

26.09.2010

Schau die Krone

Manche mögen Misik. Lesen seine Kommentare, Essays, Konsumkritikbücher; verfolgen seinen Videoblog. Spenden Geld, um misik.at »zu dem führenden progressiven Weblog Österreichs zu machen.«
Ich mag Claus Pándi. Sozusagen der reiche, ältere Bruder Misiks. Der neue starke Mann im Politikressort der Kronen Zeitung. Der Steven Soderbergh der österreichischen Videoblogger.


(Am besten sind aber die Videos des Autors dieses Blogs.)

21.09.2010

Unsere Journalisten sprechen zu kompliziert

Sie können, wollen oder dürfen nicht ohne Unterbrechung sprechen. In ihren Berichten sagen sie:

»In der New York Review of Books, da hab ich einen Artikel gefunden....« [Robert Misik]

»Das Welternährungsprogramm der UNO, das ist das Rückgrat dieser Hilfsaktion.« [Jörg Winter, ZIB9, 24.8.2010]

»Die Moschee in Bad Vöslau, die ist....« [irgendeine ZIB, August 2010]

Ich höre sinnlose Unterbrechungen zwischen Subjekt-/Objektangaben und Prädikaten. Ich höre eine Aufzählung von – demselben. Ich, ich bin. Die da, die hat. Cogito, quiaque cogito, ergo sum.
Der Satz mag vielleicht in seiner Bedeutung aufgeladen (bzw.: aufgeblasen) werden; der Standard-Standard-Leser holt sich wegen der Betonung der New York Review of Books schon wieder aus intellektueller Ehrfurcht vor Misik einen runter. Der Satz mag Frankophile ansprechen. (L'ex-roi de Zembla est-il à Paris?)
Aber der Satz wird nicht einfacher, sondern schwieriger zu verstehen. Denn Hörer könnten vergessen, worum es eigentlich geht. Der Journalist nennt »das Welternährungspgrogramm der UNO«, lässt darauf eine ultrakurze Pause und ein »das ist« folgen... und während man hört, dass »das ist«, vergisst man, was »das ist«!
Aber aus zwei Gründen hören die Journalisten damit nicht auf.
Erstens bilden sie sich ein, sie leisten der Regel Folge, gesprochen/gehörte Texte müssen einfach sein und diese Art zu sprechen sei einfach. Moderatoren schreiben dann tatsächlich Sätze nach dem dargelegten Muster in ihr Redaktionssystem, um sie in der Sendung pseudo-authentisch, pseudo-gesprochene, einfache Sprache runterzulesen.
Zweitens haben sie ein Wirrwarr in ihrem Kopf, haben ihren Text nicht fertig. Korrespondenten, die einen halbimprovisierten live-Aufsager machen und kurz nicht wissen, wie sie weitersprechen sollen, strecken ein Subjekt oder Objekt, um kein »äh« oder sonstigen Verlegenheitslaut auszustoßen zu müssen. Oder Moderatoren bauen kurzfristig eine Streckung ein, da sich im Telepromptertext etwas zusammenbraut, das sie nicht lesen können oder plötzlich als unklar erscheint. Der Moderator möchte dann ebenfalls Zeit gewinnen.
Drittens, Fall Misik, ist bloß kleinbürgerliche Eitelkeit. Wer muss schon extra darauf hinweisen, dass er etwas da, in der... gelesen, nein, gefunden hat? Solche Borniertheit interessiert mich nicht so.
Den ersten Grund habe ich hoffentlich bereits als Unsinn enttarnt – ich habe dargelegt, weshalb Texte durch redundante Subjektnennung nicht einfacher werden. Meine Forderung: Moderatoren sollen keine künstliche parole in ihren Moderationstext einbauen.
Wenn der zweite Grund richtig ist – das Herumeiern –, dann müssen Journalisten besser sprechen lernen. Das heißt im Falle »Wirrwarr«, im Vorhinein den Text, Satz für Satz, im Hirn sich zurechtzulegen, und im Falle »Text strecken«, die Moderationen zuvor oft genug durchgelesen zu haben, um nicht hängen zu bleiben und Unklarheiten vor der Sendung beseitigt zu haben.
Einwand: »Der Stress, der lässt das nicht zu!« Worauf ich erwidere: Dann müssen Journalisten halt einfach besser »grundsätzlich« lesen können, bevor sie überhaupt zu arbeiten beginnen. Dann haben sie vielleicht auch mehr Ahnung, wie solche schrecklichen Sätze in den Ohren eines Lesers klingen.
Einwand: »Gesprochene Sprache, das ist doch was Anderes als Lesen. Und les Francais, die reden ja auch so!« Erwiderung: Stimmt nicht. Gelesen oder gesprochen, am liebsten sind mir solche Sätze: »In der New York Review of Books habe ich einen Artikel gefunden...«, »das Welternährungsprogramm der UNO ist das Rückgrat dieser Aktion. Es hat schon Millionen von Menschen erreicht.«, »Die Moschee in Bad Vöslau ist....«

18.09.2010

Ichbotschaft in der Kirche

Religion »Geschmackssache« und religiös sein nunmehr schlechter Geschmack (Nietzsche) – daher:

Was ist – im schlechten Geschmack – der »bessere«, d.h. weniger schlechte Geschmack? Die Ichbotschaft. Weniger Schämen notwendig, wenn man Glaubensbekenntnis aufsagt (ich glaube an Gott.... Ich glaube an... die heilige katholische Kirche....), als wenn man eine Fürbitte unterstützt: »Wir bitten dich erhöre uns.« Fall 1 hat noch etwas von Fantasie und Willen (»Lass mir meinen schlechten Geschmack! Wir sind in dieser Kirche auf einer bad taste party, und wir amüsieren uns!«), bei Fall 2 kann man schon gar kein Wohlwollen mehr entwickeln für solche Jämmerlichkeit....

Sorryisten (III)

Hab heute mein zweites Doppelsorry bekommen: SMS: »Na [nein] sorry! Bin erst grad vom fußballmatch heimkommen! Sorry«
Falls die Person – die ich natürlich gernhabe und der ich dankbar für ihr Sprachmaterial bin – dies hier jemals zu Gesicht bekommt – biete ich ihr natürlich folgendes an: Sorry, mein Freund, Sorry!

17.09.2010

Zuck is no dumb fuck

In instant messages nannte Facebooks Gründer Mark Zuckerberg seine ersten user, Harvardstudenten, "dumb fucks", da sie ihm so viele Informationen (Mails, Fotos, Adressen) zur Verfügung stellten; zudem bot er seinem Gesprächspartner an, ihm diese Informationen weiterzugeben.

01.09.2010

Sorryisten (II)

Harald Fidler, Standard-Medienredakteur am Rande einer Randnotiz: »Sorry für Tippfehler und womöglich im Nichts endende Sätze: Die Randerscheinungen entstehen als rasche Randnotiz.«

31.08.2010

An alle Sorryisten -

sorry, ich muss mal schnell über euch lachen.

Ein Plädoyer gegen das unüberlegte Ausstoßen eines »Sorry« oder das Schreiben eines flotten »sry« würde moralisch und altmodisch klingen. Gegen den verbalen Schlag ins Gesicht »tut leid« hat »dag« oder »rau« schon irgendwann im Jahr 2003 oder 2004 einmal auf der Standard-Titelseite geätzt – ich erinnere mich, ich war damals Schüler und Standard-Leser und es war die letzte Standard-Glosse, die mir gefallen hat.
Ich liste hier einfach die geilsten Sorrys auf, die mir je untergekommen sind. (Und es ist mir ja irgendwie peinlich, dass mir gar so viele untergekommen sind; ich fühle mich minderwertig, wenn mir wer ein »Sorry« rüberschiebt. Egal!)

Arbeitskollege rülpst und sagt »Sorry«.
Ich frage einen Freund, ob wir Tennis spielen gehen, er sagt: »Heute eher sorry«.
Anderer Freund vergisst Tennistermin und antwortet per SMS mit einem Verzeihungs-Overkill: »Verdammt!! Hab vergessen dich zurück zu rufen! Sorry. Es geht sie heute bei mir leida net aus. Tut leid«
Eine Erstsemesterin bietet mir an, mir einen Platz in der Inskriptionsschlange freizuhalten und schreibt Stunden später, nachdem ich mich bereits anderswo durchgekämpft und alles erledigt, die aufdringliche Pseudohelferin aber nicht darüber informiert hatte: »Sorry!leider haben die leute dort mit 499 aufgehört und dann vor meiner nase die tür zugemacht!hätte dir geschrieben aber war so verärgert dass ich vergessen habe! lg«
»Sorry bin wieder spät dran.« Gibt's das auch als Vorlage?
»Sorr, hab schon wieder verschlafen. Soll ich noch nachkommen? Bräuchte 30 minuten.«

Ist fortzusetzen!

30.08.2010

Chinesisches Radfahren (V)

Zusammenfassend zu dieser kleinen Serie kann ich sagen, dass Chinesen sich auf dem Rad auf a-professionelle, uneuropäische Art fortbewegen. Darunter ist zu verstehen: unergonomisch, Gelenke strapazierend, leistungsfeindlich, lethargisch, fließend, schwebend.
Es gibt im Westen kein chinesisches Radfahren. Das Freizeitradeln im Westen ist eine Synthese aus gemütlichem, mitunter chinesischem Radfahren, und dem professionellen Stil. Man wird im Gratismagazin velosophie Befürworter und Beschreiber eines gemütlichen Dahintrudelns finden, aber kein Plädoyer niedriggeschraubter Sättel. Man hat im Westen zu viel Profitradition, zu viel Technologie eingeatmet; man würde sich verstellen, würde man »chinesisch« radfahren.
Man müsste wider besseres Wissen den Sattel unausgefahren lassen, müsste O-beinig mit den Fersen anstatt mit dem vorderen Fuß Druck auf das Pedal ausüben, und müsste gegenüber Platten, verbogenen Speichen, gegenüber Überlegungen der Sicherheit (Licht, Helm) eine Ignoranz ausüben, die bereits eine Dummheit wäre.
Und so schwingt man sich auf gut hergerichtete (»servicierte«), gut bremsbare, nicht quietschende, passend eingestellte Räder, trägt einen Helm – und kann gar nicht chinesisch Radfahren.


Die Chinesen selbst werden das chinesische Radfahren »verlernen« und »aus ihm herauswachsen«. Ein Indiz dafür ist im Film Beijing Bicycle zu finden: Der Schüler Jian, der Radfahren liebt und gerne herumtrickst, hat in seinem Zimmer Poster von Profi-Rennradfahrern hängen. Vielleicht eine unglaubwürdige Requisite, denn Jian kauft sich ein Citybike und will eher tricksen als rennfahren.
Aber irgendwie ist dieses Poster nun einmal in den Film gelangt. Irgendwer hat – wohl unbewusst – gewusst, was es auszudrücken hat:
In dem Poster ist das chinesische Streben nach dem westlichen Leben verborgen; das Ideal einer modernen kapitalistischen Gesellschaft, die als Transportmittel motorisch betriebene Wägen verwendet und das Rad einer gezüchteten Klasse von Rennfahrern überlässt.
Wenn wir uns nach einem chinesischen Radfahren sehnen, wünschen wir das Gegenteil.

26.08.2010

»Bitte zurückbleiben!«

Via Armin Thurnher (Falter 34/10): Die Wiener Linien ändern die Bekanntgabe eine Station verlassender Ubahn-Züge von Sssugfeadapp (written by Armin Thurnher) auf »Bitte zurückbleiben«. Thurnher bemerkt die melancholische Zweideutigkeit des Satzes und macht ein simples "Bitte nicht mehr einsteigen!" schmackhaft.
Ich finde beide Varianten ungeeignet. »Zug fährt ab!«, das war eine unaufgeregte Ichbotschaft. Kein Befehl. Man frage seinen Lebensberater, was dem modernen Menschen besser passt.

25.08.2010

Poetische Prosa (I)

In dieser Serie sammle ich Sätze, die in prosaischer Umgebung hervorleuchten. Ich entnehme sie Zeitungen, Büchern, der Fernsehwerbung, und gebe Ihnen die Form eines Gedichtes.

“I look at the wind on the trees. I watch the swimmers go back and forth,” Mr. Colley said. “I usually come here to clear my head.” Mr. Colley wird vom Autor der New York Times geschickt als der ruhige, das Leben betrachtende Held an das Ende der Story gesetzt: Es geht, im Rahmen einer Serie, um die Leidenschaft des digitalen Menschen, freie Zeitlöcher mit Fernsehkonsum, Telefonaten, Apps und Games zu stopfen. Das Zitat in zwei Verse formiert:

I look at the wind on the trees.
I watch the swimmers go back and forth.

Und leicht modifiziert, um das Formgesetz des Haikus zu erfüllen (zumindest in seiner abstraktesten Forderung: fünf Silben, sieben Silben, fünf Silben; ungeachtet möglicher Zäsurverbote):

I look at the wind,
on the trees, and the swimmers
going back and forth.

Wem das zu cheesy ist, der lese den ganzen Artikel. Da kommt der Spruch dann ohnehin am besten raus, als poetische Prosa.

Was ich gerne gepostet hätte

Ich möchte einen Menschen mit Kommentierprokrastination kennen lernen. Das wäre ein "Seelenverwandter"... einer, der gerne posten würde - aber zu grübeln beginnt... und es nicht tut! Bei mir fing es heute gleich deftig an:

Zuerst leikte ich das Foto eines Albumcovers, um damit an einem Gewinnspiel von Theyshootmusic teilzunehmen. Eine Hand hält auf dem Foto das Album in die Höhe; der klammernde Daumen wölbt sich, wie meiner es nicht kann und wie ich es schon in der Volksschulzeit an Kameraden und Mädchen sah und beneidete. Natürlich will ich jetzt posten: "Beautiful thumb. I like!" Denn ich würde ja auch Ironie mit diesem Post generieren; "i like" heißt auf Ikonisch: [thumb up]. Ich liebe es, wenn die Menschenideen und -produkte -- d.h. der körperliche Daumen, seine ästhetische indie-style Abbildung, seine Placierung neben dem ikonischen Facebook thumb -- so nah beieinander sind, dass es funkt im Hirn! -- Aber ich trau mich nicht kommentieren!

Dann lese ich den Post einer Bekannten, Klara*, die ein Haus renoviert hat und sich nun der Vollendung, [d.h. aber immer: dem Anfangsstadium der Wahlverwandtschaften-Erlebnisstruktur des Menschen!] nähert:

"...Erlebt gerade ein neues Wohngefühl mit Klotüren und so... :-)"

O wie viel mir dazu einfällt! Gerne hätte ich geschrieben:

"Ich lasss immer offen, wenn ich alleine bin, weil ich dann hinaus in die Küche sehen kann. Der mich umgebende Raum weitet sich aus, der Blick des auf dem Abort Sitzenden, traditionell ein neugieriger Explorer, bekommt ein noch größeres Angebot an zu Schauendem, zu Bewertendem, zu entdeckendem Kleinen geboten. Geiles Wohngefühl halt ;)"

Aber wie wird dieser "Kommentar von einem anderen Stern" ankommen?

Dann das:

"hat gott auf mich geschissen oder warum lass ich dich gehen. Ich liebe sie so sehr. Ich will nicht das sie weg geht von mir ; ( ; ( ; ("

Wie er die Smileys tanzen lässt! Wie er die Verzerrungen, das Zucken seines Schmerzengesichtes in Buchstaben setzt! Ich möchte ihm gratulieren, ganz simpel - mit einem "I like". Aber das altbekannte Problem tut sich auf: Mag man den auf die Wirklichkeit verweisenden "Tatbestand" ["Inhalt"!] der Meldung oder die Meldung als Literatur, oder die Meldung als Lebenszeichen ("Ich mag, dass du jetzt gerade über dein Handy diese Meldung verfasst.")

Auf der "Zeit im Bild"-page in Facebook streiten die armen User sich bei jeder Unglücksmeldung darüber. Diejenigen, die Babymorde und Flugzeugabstürze leiken, werden zerfleischt. Aber auch diejenigen, die das Leiken erklären (z.B. leikt man, um die Debatte zu verfolgen), werden zerfleischt!

Das "Philosophische", das Konstruierte, Überlegte, nicht-ontische, es wird gehasst. Es sind die einzigen "peinlichen Einträge".

Lieber Kommentare nicht auf Facebook posten, sondern hier zusammentragen, an diesem verborgenen Ort. Verborgenes Feuer!

* Anfangsbuchstabe wurde vom Autor geändert