1. Fortschritt feindlich
Ferdinand von Saar stellt Fahrradkleidung – in der ich mir, hoffentlich adäquat interpretierend, Profis, Tüftler und ehrgeizige Dilettanten vorstelle – in eine Reihe bemerkenswerter Reaktionarien und Einsichten:
Fin de siècle (1899)
So jagt hinein denn jauchzenden Größenwahns
Mit Korybantenlärm und in Fahrrad-Dreß,
Elektrisch und auf Flugmaschinen –
Jagt nur hinein in die nächste Zukunft!
Denn euch gehört sie – Männern der Überkraft,
Den letzten Fußtritt gebt der Vergangenheit,
Gebt allem Edlen, das ihr immer
Bitteren Hasses verlacht als Torheit!
Entrollt das Banner geistigen Strebertums,
Vermannte Weiber! Brütet erfindrisch aus
Die hohen Satzungen des lesbisch
zwitterverheißenden Frauenstaates!
Bekränzt mit Lorbeeren selber, ihr Künstler, euch!
Nicht in Gestalten, nur in Symbolen schafft –
Und im Verzückungskrampf der Ohnmacht
Lallt eure Lieder, ihr jungen Dichter!
Auf! Auf! Vorwärts, modernes Titanenvolk!
Ein neu Jahrhundert, sieh, es empfängt dich schon –
Doch nicht zum Siege: nur zum Taumel
Eines verworrnen Pygmäensturzes!
2. Fortschritt affirmierend
Richard Dehmel schreibt auf das Radfahren eine Hymne mit lässigen Szenen. Die Fortschrittspointe: Das Radfahren sei besser als was zu Goethes Zeit vorhanden war. Dass Goethe solche Gedichte schrieb wie jenes vom Harfner...
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte
[die den Menschen in ein »schuldvolles Leben« führen, näml. Inzest]
...liegt daran, dass kein Fahrrad vorhanden war: und so musste der Harfner in Wilhelm Meister sich umbringen, Goethe griesgrämig gehen oder, was er gar nicht so gern mochte, reiten; – und Schiller bei seinem manischen Flugpferd-Gehabe bleiben. Denn:
Radlers Seligkeit (1891)
Wer niemals fühlte per Pedal,
dem ist die Welt ein Jammertal!
Ich radle, radle, radle.
Wie herrlich lang war die Chaussee!
Gleich kommt das achte Feld voll Klee.
Ich radle, radle, radle.
Herrgott, wie groß ist die Natur!
Noch siebzehn Kilometer nur.
Ich radle, radle, radle.
Einst suchte man im Pilgerkleid
den Weg zur ewigen Seligkeit.
Ich radle, radle, radle.
So kann man einfach an den Zehn
den Fortschritt des Jahrhunderts sehn.
Ich radle, radle, radle.
Noch Joethe machte das zu Fuß,
und Schiller ritt den Pegasus.
Ick radle!
3. Für welches Gedicht vote ich?
Für Dehmels. Man kann es ruhig naiv als ehrlich gemeinte Hymne lesen. Man kann darauf verzichten, über das Berliner Lokalkolorit am Ende zu grübeln; da mag vielleicht tieferer Sinn sein, aber den lassen wir schlummern.
Zu solch erbaulichen Texten sind die Deutschen immer noch fähig: Ich denke an ein Lied der »Ärzte« – »....Gestern ging es allen dreckig, heute geht es steil bergauf; jeder hat sechs Richtige, alle sind total gut drauf....«; und ich denke an Rafael Horzon, der, aus tränennassem Bett, zu neuen Taten aufstand, aus seinem Leben »einen bedeutungsvollen Text gemacht« und, weniger life-as-literature-artig gesprochen, ordentlich Geld verdient hat.
Zum Verlierer. Von Saar hat es von vornherein schwer bei mir gehabt, denn er ist adeliger alter Wiener. Diesen Menschentyp haben Weltgeschichte, Richard Strauss und Vladimir Nabokov mir für immer als Archetypen des Uncoolen verklärt. Meine Voreingenommenheit ist unfair, aber plausibel:
Weltgeschichte – davon habe ich mir nur gemerkt, dass ein alter Austriakenkaiser uns in die Scheiße geritten hat.
Richard Strauss – umgibt gute Personen mit böser Musik (Salome, Elektra) und böse Personen mit dem himmlischsten Walzer (Ochs von Lerchenau) [Susan Sontag hat eine gewisse Aufführung in ihre Camp-Liste aufgenommen, damit coole Städter ja wissen, dass sie sich vom uncoolen Wiener Schleim distanzieren müssen].
Vladimir Nabokov – besetzt den Roman Pnin mit lauter unsympathischen Professorengestalten, darunter »the newly imported Austrian scholar, Dr. Bodo von Falternfels«.
Zudem schreibt Nabokov in seinen Berliner Tagebüchern, dass die Straßenbahn etwas Altmodisches an sich habe. In den 1920ern eine verdammt coole Aussage. Wer möchte nicht die Erscheinung der Tramway lieber als etwas Altmodisches erlebt haben – oder meinetwegen (wie, glaube ich, Nietzsche in Turin) als Entzückendes –, denn als fürchterliche »nächste Zukunft« (»Elektrisch und auf Flugmaschinen«)?
Zusammenfassend kann ich sagen: Richard Dehmel schafft es in seinem Gedicht, Radfahren als etwas Entzückendes darzustellen, Freude an einer neuen Menschenerfindung auszudrücken.
Ferdinand von Saar stellt das Bild vom »Fahrrad-Dreß« in eine Aufreihung von Neuerscheinungen, die ihn nichts angehen und die ihm angenehmen, liebgewonnenen Dinge, »alles Edle«, verdrängen. Sie tun dies »jauchzenden Größenwahns« und »hineinjagend«; Saar gebraucht eine Sprache hoher Geschwindigkeit, bemüht die Idee des »Veloziferischen«. Er betreibt aus zurückgelehnter Perspektive Kulturkritik. Das Phänomen des Radfahrens kann er dadurch nicht lobend würdigen. Er stellt sich außerhalb des Kreises der Velopeden, wie einst Roland Barthes, wenn er Mythen dekonstruierte: »Die Tour de France, den guten französischen Wein entziffern, heißt sich von jenen absondern, die sich daran erfreuen.«