In diesem Blogeintrag geht es um das leidige, peinliche Thema »bei rot über die Straße gehen«. Aber ich hole da was Erbauliches raus.
1. Dummheit neu beschreiben
Bei rot aus Prinzip nicht über die Straße gehen ist eine Form von Dummheit (Medium: Mensch). Es gibt ein schönes neues Wort für dumme Menschen. Ich habe es in der deutschen Filmversion von Juno und im Roman Tschick gefunden; man darf es als gebräuchlich ansehen und selber verwenden: dummer Mensch ist einer, »der nicht die hellste Kerze im Leuchter ist«. Diese Neubeschreibung erzeugt fruchtbare bildliche Überlegungen zu besagtem Thema.
2. Die Neubeschreibung als eigener Fall
Gesetz der Physik ist, dass gesehen werden nur das kann, was leuchtet oder beleuchtet wird: »It’s always night, or we wouldn’t need light«, sagte Thelonious Monk (via Thomas Pynchon). Der Mensch ist seit mehr als zweihundert Jahren aufgeklärt. Man nimmt an, der Durchschnittsmensch ist »angezündet«: Er leuchtet von selbst.
Tun aber nicht alle! Die finstern Kerzen pflanzen sich fort. Die Dummheit wächst in ihren Kindern weiter. Dunkelheit bleibt bestehen. Night prevails. Das Feuer der Aufklärung war bislang außerstande, diese Kerzen anzuzünden.
Sie bedürfen weiterhin der Anleuchtung. Das Licht ist ausgelagert. Beispiel Straßenverkehr: Anstatt im eigenen Bewusstseinssystem eine Leuchte zu haben, die einem sagt, wann man die Straße überqueren kann, hat der Dumme seine Leuchte in der Verkehrsampel. Schaltet diese auf grün, geht er los. Sein Tun und Lassen wird geführt von einem Tunnelblick auf eine Ampel, der 99,5% des Sehfeldes – wo es zu entdecken gäbe, ob denn überhaupt ein Auto in Anfahrt ist – außer Acht lässt.
3. Recherche in der Literatur
Weshalb das Befolgen der Ampel dumm ist und was für einen aufgeklärten Umgang mit ihr erforderlich ist, hat Karl Heinz Bohrer bereits geschrieben. Ich zitiere die ganze Stelle aus seinem 1991 im Rahmen seiner »Provinzialismus«-Kolumne und 2000 in einem danach benannten Sammelband erschienenen Essay:
»In einer hochangesehenen liberalen Traditionszeitung der noch immer schönsten unserer Rheinstädte war kürzlich die Wehklage darüber zu lesen, daß immer mehr Fußgänger sich beim Überqueren der Straßen nicht an die Verkehrsampeln halten, es deshalb zu vielen schweren Unfällen komme und das in Aussicht gestellte scharfe Eingreifen der Polizei gegen solche die Ampeln mißachtenden Fußgänger nur zu begrüßen sei. Ich erinnere mich an eine der ersten Deutschland-Nummern des amerikanischen Magazins Life nach dem Kriege, in dem der noch immer manifeste »Kadavergehorsam« der Deutschen, ihr fragloses Befolgen öffentlicher Anweisungen unabhängig ihres Sinns oder Unsinns daran abgelesen wurde, daß sie auch dann nicht bei Rot die Straße überquerten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen sei.
Zweifellos überlebt der Verkehr der großen westeuropäischen Metropolen nur unabhängig von den Regulationen der Verkehrsampeln. Das setzt ein zivil sensibles Verständnis zwischen Autofahrern und Fußgängern voraus, ein gewisses Augenmaß intelligenter Improvisation jenseits der Regeln, und einzelne westdeutsche Großstädter, besonders die jüngeren, beginnen sich so, nämlich urban, zu verhalten [Hervorhebung IWBL]. Offenbar wird es aber vom System nicht zugelassen, und die journalistischen Tugendwächter einer Ideologie des gefahrlos Netten geben dem ihren Zuspruch.«
4. Phänomenalisierung
Ich finde diesen Gehorsam auch noch im Jahr 2010. Und zwar in Wien. Ich liste auf, wann und wo mein und anderes urbanes Verhalten vom Pöbel beschimpft wurde:
• Fuhr in Wien ca. März 2010 mit dem Rad von der Avedikstraße kommend bei rot rauf zur Schmelzbrückenrampe; junge männliche Stimme rief, in Wiener Dialekt, mir hinterher: »Bist farbenblind?«
• Fuhr in Wien Okt. 2010 mit dem Rad über die gesamte Mariahilferstraße, ohne auch nur einmal vor einem der niedlichen Zebrastreifen für Shoppers und Shopping Sherpas stehen bleiben zu müssen. Das missfiel einer verwahrlosten, aus einer Dose Schwechater Bier trinkenden Frau mittleren Alters; sie kläffte, in Wiener Dialekt, mich an: »Bist farbenblind?«
• Las im Okt. 2010 auf Facebook diese Meldung eines (Wiener) friends, der 20 Euro Strafe zahlen musste, weil er »Verhalten eines Fußgängers« (?) an den Tag gelegt und die Straße bei rot überquert hatte. Um halb drei in der Nacht.
Zusammenfassend kann ich sagen: Es gibt wirklich diese schamlosen Denunzianten in Wien, und es sind, curiously enough, Einheimische, d.h. de facto Städter. Wenn, nach Georg Kreisler, Wien erst ohne Wiener schön wäre, ist Wien erst ohne Wiener eine Metropole!
Die Polizei ist ebenfalls tatsächlich so bescheuert. Aber dazu habe ich von einer eigenen Begegnung zu berichten. Und die ging nicht derart peinlich und finanziell katastrophal zu Ende wie jene meines friends; nein, sie verlief heroisch, und ich muss weit ausholen, bevor ich sie schildern kann.
5. Ästhetik des Widerstands
Karl Heinz Bohrer ist ja Gott sei Dank in seinem Leben nicht alleine damit beschäftigt gewesen, die Dummheiten seiner Landsleute zu beschreiben. Bohrers »große Leistungen« sind literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu romantischen Texten und Texten der klassischen Moderne von Baudelaire bis Ernst Jünger.
In einer seiner Abhandlungen nennt er die Gewaltausbrüche in Heinrich von Kleists Erzählungen als Merkmal von dessen »frappierendem Stil«. Kleist wollte erschüttern. Er spitzte seine Handlungen auf eine Gewalttat zu. Oft, darauf weist Bohrer hin, werden sie von geradezu gewalttätigen Blicken begleitet. Z.B. in der berühmten Schlussszene von Michael Kohlhaas: Bevor Kohlhaas den Zettel verschlingt, hält er »das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet«. Erst mit diesem Blick macht er erkennbar, wem sein finaler Gewaltakt, das Vernichten des Zettels, gilt.
Ich teile nun stolz mit, dass auch ich von einem Polizisten in betreff Verkehrsampel angepöbelt wurde – und in frappierendem Stile antwortete. Ich will versuchen, den Hergang dieses Ereignisses zu schildern, als ob ich Kleist wäre:
»Ich kam, abends, vom Supermarkt, und blieb an der Kreuzung, die ich täglich, ruhig und routiniert, kreuzte, und deren Ampelordnung ich, gleichsam wie meine Jackentasche, kannte, zunächst stehen, da aus der Ferne ein Audi, mit lautem Geräusche, heranzog, und ich wusste, aus Lebenserfahrung, wie schnell solche Raser, das Auge täuschend, zur Stelle sind. Als, wie ein Pfeil, der Audi vorbeigezischt, setzte ich mich in Bewegung, und ging, von keinem Schafe rings um mich nachgeahmt, hinüber, auf die andere Seite; und war dort, weiter in Richtung meiner Wohnung, einige Meter unterwegs, als aus dem Auto einer Polizeistreife, dessen Fensterscheibe gleichmäßig, durch elektronische Motoren, hinuntergezogen worden, ein Mann, mit kurzen Haaren, ein derbes, erzürntes Gesicht mir entgegenstreckte, und, weil ich derlei Hässlichkeiten aus Gewohnheit unbeachtet lasse, mir zurief, »da ist jetzt aber rot!« – worauf ich, in meiner städtischen Betragung verletzt, ein trotzig Wort mir überlegte; anstatt jedoch, wie endblöd, dem bellenden Aufrührer zurückzubellen, schwieg ich, und richtete, ohne Stehenzubleiben, mit einem kalten Blick, der »fick dich!« bedeutete, mein Haupt in Richtung Ampel, die, den Kollegen des Aufrührers zur Losfahrt zwingend, in, genau, diesem Moment, als Vervollkommnung meines Blickes, grün zu leuchten anfing.
Die Fensterscheibe wurde hochgeschoben, das Auto rollte ab, und von hinten kamen die Schafe.«
So gehört es sich.