04.10.2010

Piazza San Marco

Bart Brands im Album des Standard: »Auf dem Markusplatz in Venedig wurden vor einiger Zeit alle Parkbänke entfernt. Wer sich heute hier hinsetzen will, muss dafür in Form eines Cappuccinos teuer bezahlen.« [2.X.2010, S. A4]

Nietzsche in Zur Genealogie der Moral (1887): »Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als ans Licht stellt; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel, dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein todtes, eins mit  A u g e n  (das heisst mit Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, – das ist hier Wüste“: oh sie ist einsam genug, glaubt es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog, so war diese Wüste würdiger, ich gebe es zu: weshalb  f e h l e n  uns solche Tempel? (– sie fehlen uns vielleicht  n i c h t :  eben gedenke ich meines schönsten Studirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10 und 12.)« [Kritische Studienausgabe, Band 5, München: DTV, 1999, S. 353]

Johann Caspar Goethe in seinem italienischen Reisebuch: »Der Markusplatz wird von der Kirche S. Geminiano und zwei Palästen begrenzt, welche die Alte und die Neue Prokuratie heißen. Unter deren Arkaden befinden sich Läden, in denen Kaffee und andere Getränke ausgeschenkt werden, so daß dieser Platz ein Zufluchtsort ist, wo man mancherlei Bedürfnis befriedigen kann.«
[Reise durch Italien im Jahre 1740, München: DTV, 1999, S. 26]

Demnach lesen wir in Vater Goethes (eher informativen als impressiven) Reisejournal, dass der Konsumwahn anno 1740 hübsch am Rand des Platzes »contained« wurde. Wir wissen aus der Lebenserfahrung, dass heute auch eine wesentliche Fläche des offenen Platzes von privately held coffeetables eingenommen wird. Wir sind zornig, dass Kaffeekonsum keine frei zu wählende Bedürfnisbefriedigung mehr ist, der man gerne nachgeht, sondern eine aufgedrängte Abzocke. Wir geben Bart Brands recht und sehnen uns nach den alten Zeiten!*


*Und pfeifen auf Professor Friedrich Schiller: Er sagt in seiner Antrittsvorlesung, die Universalgeschichte heile ihren ernsthaften Studenten »von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten«.