06.10.2010

Marschmusik macht mich geil

In Anhang zu diesem Eintrag noch ein vorwissenschaftlicher Anriss zu abgegriffenen Redensarten (»Floskeln«), wobei wir in der Literatur von Schreibarten reden müssen; und in der Musik eine Floskel eigentlich das Erhabenste ist, was es gibt.

Ich liebe dieses Phänomen: Eine Erscheinung, die sich bereits vor ihrem eigentlichen Auftritt und im Auftreten seine weitere Richtung offenbart; ich nenne es »Tauto-Phänomen«. Man findet es in Literatur und Musik. Man wird z.B. beim Durchblättern des Buches Vater Morgana keinen einzigen Satz finden, der nicht »erwartbar« sich liest, ein déjà-vu beschert, ein »déjà-lu«; man denkt: »So klangen meine geheimen Aufsätze in der Pubertät. Ich freue mich, dass ich über dieses Stadium hinweg will, und vielleicht sogar bin.«

Beispiele:
»Ich weiß natürlich, dass das total unfair ist,....« (S. 158)
»Nadja schlief neben mir. Ich sah sie an und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann....« (S. 102)
»Wie sein Vater liebte auch er das Kino.« (S. 48)
»Ich war verzweifelt.« (S. 193)
»Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie wir diese zwei Wochen überstehen sollten.« (S. 193)
»Meine Mutter saß vor ihrem Laptop und hatte sich für eine Excel-Datei entschieden.« (S. 193)


Ich habe mich dazu entschieden, so nicht zu schreiben. Aber in der Musik ist es anders.


Hier fängt der Körper an, mitzumachen, wenn er eine »Tautophonie« wahrnimmt; die Musik ergreift ihn; die Kenntnis des Klangs, der Verlauf einer Melodie stimmt nicht ärgerlich und dünkt einem unoriginell, sondern weckt die Stimmung der Vertrautheit und löst den Ablauf eines lebensbejahenden Verhaltensmusters aus.
Bei mir sind es Märsche. Dazu kann ich dann – anstatt ausgeklügelt zu tanzen – »freilich nur« bodenständig mitwippen und verhalten mitdirigieren.
Aber welch eine Glücksepiphanie, und welche Tautophonie in meinem Kopf! Die Abfolge der Noten erblüht wie Tulpen auf einem LSD-Trip; ich fühle mich wie der »perfekte Zuhörer«; eigentlich ist erst die Benutzeroberfläche meines Gehirns der »Klangkörper«.
Wenn ich mich in die Liste der Menschen eintragen darf, denen Melodien und Harmonien ein Anlaufen von Tränen in die Augen zaubern können, werde ich als Auslöser einige Märsche angeben, die ich bei uns in Zembla* auf After-Church-Partys hören durfte; d.h. wenn der Musikverein nach einem liturgischen Hochamt den Kirchplatz bespielte, wo wirkliches Brot und echter Wein eingenommen wurden.
YouTube hat dazu noch kein würdiges Video. Man lese am besten Ludwig Tiecks Runenberg, die Beschreibung eines Dorfsonntages kann den empfindsamen Leser vielleicht in eine zu meinem Musikerleben analoge Glücksstimmung versetzen.


(Gesang zum Marsch finde ich übrigens nicht so gut. Verhaut die Stimmung und lässt prosaische und sokratische Gedanken einziehen. Manch einer wird z.B. über nationalistische Aspekte der Marschlyrics grübeln, anstatt seinen Körper hinzugeben. – Aber das ist vorerst nur ein gewollter Theorieanschluss zur Tango-Betrachtung Hans Ulrich Gumbrechts in seinem Epiphanien-Essay; ich muss das überprüfen, hoffentlich komme ich bald wieder auf ein recht »bauernschädeliges« Volks- oder Kirchenfest!)


Anmerkung:
*Ein Codewort für »Kindheit« und »Heimat« jeglichen daran mit Wehmut denkenden und diese gegen den Gedanken totalen Verlusts in einem Text heraufbeschwörenden Autors. Hat Vladimir Nabokov in Pale Fire erfunden.