18.08.2013

Vom Beichtstuhl auf die Straße

Warum schafft die deutsche Sprache nicht, ein Wort für verkehrszeichenlose Straßen, »shared space«, zur Verfügung zu stellen?
Schlimmer, als das englische Wort »shared space« zu benutzen, ist, dieses Wort ins Deutsche zu übersetzen, einsetzen zu wollen – »geteilter Raum«: was sey das?
Das Wort »share« ist durch den Siegeszug der neuen Vernetzungsprogramme im Web so selbstverständlich geworden, dass seine Herkunft unbeachtet bleibt: die Kirchen, die Anonymen Alkoholiker. Orte, wo schwache Menschen zusammentreffen, die etwas Trübseliges loswerden müssen. Dort wird »geshared«. Da darf man Kummer teilen, austeilen, verteilen. Die Gegenwartskunst hat solche Elendstreffen festgehalten: in Fight Club, der Romanverfilmung, tröstet der gesunde Hauptdarsteller sich an der Kortisonbrust eines Hodenkrebskranken. In Sabbath’s Theater, Philip Roths Roman mit dem meisten Analverkehr, geht eine Ehe zugrunde, weil die Frau von Treffen Anonymer Alkoholiker als unausstehliche geläuterte Sauberfrau nach Hause kommt, mit einer Vorliebe fürs »Sharen«. Philip Roths Zorn entzündet sich an solchem Seelenheilüberschwang:

And now that she was sober he hated her AA slogans and the way of talking she had picked up from AA meetings or from her abused women’s group, where poor Roseanna was the only one who’d never been battered by a husband. ... And those words she used! “And afterward there was a discussion and we shared about that particular step….” “I haven’t shared that many times yet….” “Many people shared last night….” What he loathed the way good people loath fuck was sharing.

Der »shared space« im öffentlichen Raum holt diese überzogenen Heilserwartungen auf die Straße, er schürt Hoffnungen. Vom Beichtstuhl in die town hall auf die Straße. Die Schwachen gehen jetzt auf die Straße in der Hoffnung, das »Sharen« des öffentlichen Raumes werde ihnen Trost und Mut geben. Die naivsten Werbefilme, die es in den 1950ern gegeben haben könnte, sollen Wirklichkeit werden – Autofahrer und Radfahrer, die einander zuwinken, einer eifriger als der andere den Vorzug gebend.
Übrigens, ist ein »geteilter Raum« vielleicht Tautologie?
There’s a gap in between, there’s a gap where we meet, where I end and you begin – dichtete bereits Thomasus Yorkus; geht man nach vor in der Geschichte literarisch oder musikalisch dokumentierter poetischer Äußerungen, wird man noch weitere so Wahrheitsstatements finden. Das Geteilte des Raumes kann mit dem »neuen« »shared«-Konzept demnach nicht gemeint sein, wenn er immer schon geteilt ist.
Auch das Aufgeteilte des Raumes erfährt durch Komplettumstellung auf gegenseitige Rücksicht (Verzicht auf Verkehrszeichen) keine krasse Änderung. An einer Kreuzung kommt Gefahr aus drei Richtungen, egal ob Verkehrszeichen dastehen oder nicht.
Und ist shared space ein innovatives wissenschaftliches Konzept? Ich finde nicht. Einer meiner Lehrer in der Fahrschule, ein simpler Schädel, der seinen Unterricht mit Witzen auf Kosten des weiblichen Geschlechts anzuckerte, sprach vom »geglückten Aneinandervorbeikommen« auf der Straße als dem eigentlichen Ziel des Fahrunterrichts. Vom Trottel ausgesprochen, aber wahr!
Ist es ein leicht umsetzbares Konzept? Naa. Im oben verlinkten Artikel wird von einer deutschen Stadt berichtet, die wegen zu hoher Kosten dieses Konzept nicht umsetzen habe können. Denn ein streng nach seinem Erfinder umgesetzter gesharter Space gehört nivelliert.
Wie immer in der Politik, muss die Umsetzung von kollektiv bindenden Entscheidungen mit einer Auszahlung öffentlicher Gelder verbunden werden. So kann die Verwirklichung des Konzepts an Budgetnot scheitern, obwohl eigentlich bloß Entfernung von Stangen und Ampeln notwendig wären sowie der Grips der Bürger. Die Farbe auf dem Asphalt wird verwittern.
Aber erst auf jenen Berater hört man, der nicht nur Abbau, sondern auch Umbau (eben die Straßenebnung) fordert, nicht nur Honorar für eine Vision, sondern auch räumliche Manifestation.
Ich bleibe in China, bis die Kommunisten mich rausschmeißen.