Man hofft, Studierende in die Gestaltung der Universität einbezogen zu haben, wenn man sie ein bisschen die Infrastruktur dekorieren lässt. Oder auserwählte Studentinnen Sitzmöbel entwerfen und die andern Studenten abstimmen lässt, welcher der Pläne produziert werden soll.
Für das Hörsaalzentrum am Campus zur Auswahl: stylishe Heurigenbank; innovative Heurigen-Eckbank mit etwas Lehne; eine Kombination aus diesen beiden; eine riesige Holzpercussion namens »Relax«.
Ich habe nicht abgestimmt. Keines der Modelle taugt etwas: Minilehnen sind Verarsche, die Holzpercussion ist eher was für John Cage und Simon Rattle, und das Sitzen auf Heurigenbänken ist unangenehm (das Zeltfestvolk weiß das und steht lieber auf ihnen).
Ich will einfach in den Fachbibliotheken auf bequemen Stühlen sitzen. Was großteils ohnehin möglich ist. Ich bin zufrieden. Man könnte noch Lederpolsterungen anbringen, wie in der Nationalbibliothek. Dort konnte ich immer lange gut sitzen (bis Johanna Rachinger diese breitschultrigen Söldner auflaufen ließ, in »Security«-Jacken, vor denen ich mich schäme, ein Buch aufzuschlagen).
Universitätsmanagement und Hochschülerschaft würden und können es aber nicht schaffen, standardmäßig mit Lederpolsterungen ausgestattete Fachbibliotheken politisch und sozial zu vermarkten.
Zum Schluss liste ich hier noch die Namen der Möbeldesignerinnen und einige Schlagworte ihrer Kampagne auf, damit neugierige Googlerinnen vielleicht zu diesem Eintrag gelangen.
Tina Wintersteiger, Elisabeth Zeininger, Student Space, Meine Idee, Flexible, Loop, Floop, Relax, Geometrie des Raumes, Kaffeeecke, Statements, Formrohr, Arbeitstisch, Sitzlandschaften
...naja, halt das übliche Vokabular. Ich habe schon auf dem Gymnasium feierlichen Einweihungen neuer Kaffeeecken beigewohnt.
19.11.2010
18.11.2010
Zwei gegensätzliche Radfahrgedichte
Die Semantik professionellen Radfahrens ist in China positiv besetzt und ist dort in die allgemeine Hoffnung auf Wohlstand eingebunden. Ich bin auf zwei westliche, Radfahren beschreibende bzw. streifende Gedichte gestoßen, die vor gut hundert Jahren entstanden – als Industrialisierung und Mondialisation im Westen umgesetzt und die Menschen hier in einer vergleichbaren Situation waren wie heute die Chinesen. Wie stand die deutsch(sprachig)e Intelligenz zum Radfahren?
1. Fortschritt feindlich
Ferdinand von Saar stellt Fahrradkleidung – in der ich mir, hoffentlich adäquat interpretierend, Profis, Tüftler und ehrgeizige Dilettanten vorstelle – in eine Reihe bemerkenswerter Reaktionarien und Einsichten:
Fin de siècle (1899)
So jagt hinein denn jauchzenden Größenwahns
Mit Korybantenlärm und in Fahrrad-Dreß,
Elektrisch und auf Flugmaschinen –
Jagt nur hinein in die nächste Zukunft!
Denn euch gehört sie – Männern der Überkraft,
Den letzten Fußtritt gebt der Vergangenheit,
Gebt allem Edlen, das ihr immer
Bitteren Hasses verlacht als Torheit!
Entrollt das Banner geistigen Strebertums,
Vermannte Weiber! Brütet erfindrisch aus
Die hohen Satzungen des lesbisch
zwitterverheißenden Frauenstaates!
Bekränzt mit Lorbeeren selber, ihr Künstler, euch!
Nicht in Gestalten, nur in Symbolen schafft –
Und im Verzückungskrampf der Ohnmacht
Lallt eure Lieder, ihr jungen Dichter!
Auf! Auf! Vorwärts, modernes Titanenvolk!
Ein neu Jahrhundert, sieh, es empfängt dich schon –
Doch nicht zum Siege: nur zum Taumel
Eines verworrnen Pygmäensturzes!
2. Fortschritt affirmierend
Richard Dehmel schreibt auf das Radfahren eine Hymne mit lässigen Szenen. Die Fortschrittspointe: Das Radfahren sei besser als was zu Goethes Zeit vorhanden war. Dass Goethe solche Gedichte schrieb wie jenes vom Harfner...
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte
[die den Menschen in ein »schuldvolles Leben« führen, näml. Inzest]
...liegt daran, dass kein Fahrrad vorhanden war: und so musste der Harfner in Wilhelm Meister sich umbringen, Goethe griesgrämig gehen oder, was er gar nicht so gern mochte, reiten; – und Schiller bei seinem manischen Flugpferd-Gehabe bleiben. Denn:
Radlers Seligkeit (1891)
Wer niemals fühlte per Pedal,
dem ist die Welt ein Jammertal!
Ich radle, radle, radle.
Wie herrlich lang war die Chaussee!
Gleich kommt das achte Feld voll Klee.
Ich radle, radle, radle.
Herrgott, wie groß ist die Natur!
Noch siebzehn Kilometer nur.
Ich radle, radle, radle.
Einst suchte man im Pilgerkleid
den Weg zur ewigen Seligkeit.
Ich radle, radle, radle.
So kann man einfach an den Zehn
den Fortschritt des Jahrhunderts sehn.
Ich radle, radle, radle.
Noch Joethe machte das zu Fuß,
und Schiller ritt den Pegasus.
Ick radle!
3. Für welches Gedicht vote ich?
Für Dehmels. Man kann es ruhig naiv als ehrlich gemeinte Hymne lesen. Man kann darauf verzichten, über das Berliner Lokalkolorit am Ende zu grübeln; da mag vielleicht tieferer Sinn sein, aber den lassen wir schlummern.
Zu solch erbaulichen Texten sind die Deutschen immer noch fähig: Ich denke an ein Lied der »Ärzte« – »....Gestern ging es allen dreckig, heute geht es steil bergauf; jeder hat sechs Richtige, alle sind total gut drauf....«; und ich denke an Rafael Horzon, der, aus tränennassem Bett, zu neuen Taten aufstand, aus seinem Leben »einen bedeutungsvollen Text gemacht« und, weniger life-as-literature-artig gesprochen, ordentlich Geld verdient hat.
Zum Verlierer. Von Saar hat es von vornherein schwer bei mir gehabt, denn er ist adeliger alter Wiener. Diesen Menschentyp haben Weltgeschichte, Richard Strauss und Vladimir Nabokov mir für immer als Archetypen des Uncoolen verklärt. Meine Voreingenommenheit ist unfair, aber plausibel:
Weltgeschichte – davon habe ich mir nur gemerkt, dass ein alter Austriakenkaiser uns in die Scheiße geritten hat.
Richard Strauss – umgibt gute Personen mit böser Musik (Salome, Elektra) und böse Personen mit dem himmlischsten Walzer (Ochs von Lerchenau) [Susan Sontag hat eine gewisse Aufführung in ihre Camp-Liste aufgenommen, damit coole Städter ja wissen, dass sie sich vom uncoolen Wiener Schleim distanzieren müssen].
Vladimir Nabokov – besetzt den Roman Pnin mit lauter unsympathischen Professorengestalten, darunter »the newly imported Austrian scholar, Dr. Bodo von Falternfels«.
Zudem schreibt Nabokov in seinen Berliner Tagebüchern, dass die Straßenbahn etwas Altmodisches an sich habe. In den 1920ern eine verdammt coole Aussage. Wer möchte nicht die Erscheinung der Tramway lieber als etwas Altmodisches erlebt haben – oder meinetwegen (wie, glaube ich, Nietzsche in Turin) als Entzückendes –, denn als fürchterliche »nächste Zukunft« (»Elektrisch und auf Flugmaschinen«)?
Zusammenfassend kann ich sagen: Richard Dehmel schafft es in seinem Gedicht, Radfahren als etwas Entzückendes darzustellen, Freude an einer neuen Menschenerfindung auszudrücken.
Ferdinand von Saar stellt das Bild vom »Fahrrad-Dreß« in eine Aufreihung von Neuerscheinungen, die ihn nichts angehen und die ihm angenehmen, liebgewonnenen Dinge, »alles Edle«, verdrängen. Sie tun dies »jauchzenden Größenwahns« und »hineinjagend«; Saar gebraucht eine Sprache hoher Geschwindigkeit, bemüht die Idee des »Veloziferischen«. Er betreibt aus zurückgelehnter Perspektive Kulturkritik. Das Phänomen des Radfahrens kann er dadurch nicht lobend würdigen. Er stellt sich außerhalb des Kreises der Velopeden, wie einst Roland Barthes, wenn er Mythen dekonstruierte: »Die Tour de France, den guten französischen Wein entziffern, heißt sich von jenen absondern, die sich daran erfreuen.«
12.11.2010
Friedensbrücke: Früher Natur, jetzt Idylle
Beim Spazieren in der Wiener Hauptbücherei fiel mir Alfred Pausers Kompendium »Brücken in Wien« in die Hände, das über die Errichtung der Friedensbrücke im Jahr 1924 berichtet:
»Im Unterschied zur alten [der Brigitta-] Brücke war bereits in der Ausschreibung die Anordnung des Tragwerkes unter der Fahrbahn bedungen worden und dies trotz der damit verbundenen höheren Kosten. Man wollte den freien Ausblick auf den Leopoldsberg und Kahlenberg nicht durch die nüchtern wirkenden eisernen Tragwände stören.«
Demnach wurde hier, durch Zahlen eines höheren Preises, die geilste Technik belohnt: nämlich eine Lösung, die ihre gesteigerte Komplexität vor dem Laien verbirgt; »nüchtern wirkende« Tragwände sollten von einem noch besseren Gestell ersetzt werden; die noch größere Nüchternheit dieser Lösung sollte sich nicht protzig mitteilen; –– so wie der Athlet Pete Sampras, nachdem er in den 1990ern zu Nike umgestiegen war, seine Muskeln unter lang geschnittenen Hosen versteckte, während Thomas Muster den altmodisch gewordenen kurzen Shorts treu blieb, die so schön zu seinem kämpferischen Betragen passten ––; der passierende Laie sollte sich an dem Ausblick auf die Natur erfreuen können –
der Brückenbau folgt Funktionalität, Ingenieurskunst und einem Hang zur Natur
(aus welchen Gründen die Natur hier der Rechtfertigung dient, kann ich auf die Schnelle nicht eruieren. Ein niederer Grund wäre Eskapismus, wie Nietzsche ihn beschrieben hat [à la man sitzt jetzt den ganzen Tag im Büro und will hinaus in die Natur; früher in der unterhaltenden Gesellschaft am Hof Ludwigs XIV hätte es das nicht gegeben]; ein erhabener Grund wäre, wenn man sich in der Nachfolge des Turmsteigers Goethe sieht und sich auch auf Brücken einen Überblick über die Gegend verschaffen möchte; [noch durchzudenken ist das Ganze aus Heideggers »Geviert«-Totalperspektive, insbesondere im [Brücken-] Essay »Bauen Wohnen Denken«).
Mit der Renovierung der Friedensbrücke – ich begleitete kritisch – ist eine andere Stadtbau-Maxime umgesetzt. In einer Neuauflage wird es über die heuer erfolgte Renovierung heißen müssen:
»Trotz der damit verbundenen höheren Kosten wurde ein höheres Geländer angebracht. Man wollte erstens eine/n Künstler/in subventionieren und gab zweitens einer pazifistisch-naiven Vorhaltung lieblicher Friedenstauben im Geländerglas die Priorität vor dem nüchternen freien Ausblick auf Leopoldsberg und Kahlenberg.«
»Im Unterschied zur alten [der Brigitta-] Brücke war bereits in der Ausschreibung die Anordnung des Tragwerkes unter der Fahrbahn bedungen worden und dies trotz der damit verbundenen höheren Kosten. Man wollte den freien Ausblick auf den Leopoldsberg und Kahlenberg nicht durch die nüchtern wirkenden eisernen Tragwände stören.«
Demnach wurde hier, durch Zahlen eines höheren Preises, die geilste Technik belohnt: nämlich eine Lösung, die ihre gesteigerte Komplexität vor dem Laien verbirgt; »nüchtern wirkende« Tragwände sollten von einem noch besseren Gestell ersetzt werden; die noch größere Nüchternheit dieser Lösung sollte sich nicht protzig mitteilen; –– so wie der Athlet Pete Sampras, nachdem er in den 1990ern zu Nike umgestiegen war, seine Muskeln unter lang geschnittenen Hosen versteckte, während Thomas Muster den altmodisch gewordenen kurzen Shorts treu blieb, die so schön zu seinem kämpferischen Betragen passten ––; der passierende Laie sollte sich an dem Ausblick auf die Natur erfreuen können –
der Brückenbau folgt Funktionalität, Ingenieurskunst und einem Hang zur Natur
(aus welchen Gründen die Natur hier der Rechtfertigung dient, kann ich auf die Schnelle nicht eruieren. Ein niederer Grund wäre Eskapismus, wie Nietzsche ihn beschrieben hat [à la man sitzt jetzt den ganzen Tag im Büro und will hinaus in die Natur; früher in der unterhaltenden Gesellschaft am Hof Ludwigs XIV hätte es das nicht gegeben]; ein erhabener Grund wäre, wenn man sich in der Nachfolge des Turmsteigers Goethe sieht und sich auch auf Brücken einen Überblick über die Gegend verschaffen möchte; [noch durchzudenken ist das Ganze aus Heideggers »Geviert«-Totalperspektive, insbesondere im [Brücken-] Essay »Bauen Wohnen Denken«).
Mit der Renovierung der Friedensbrücke – ich begleitete kritisch – ist eine andere Stadtbau-Maxime umgesetzt. In einer Neuauflage wird es über die heuer erfolgte Renovierung heißen müssen:
»Trotz der damit verbundenen höheren Kosten wurde ein höheres Geländer angebracht. Man wollte erstens eine/n Künstler/in subventionieren und gab zweitens einer pazifistisch-naiven Vorhaltung lieblicher Friedenstauben im Geländerglas die Priorität vor dem nüchternen freien Ausblick auf Leopoldsberg und Kahlenberg.«
02.11.2010
Ampeltunnelblick und Ampelblick
In diesem Blogeintrag geht es um das leidige, peinliche Thema »bei rot über die Straße gehen«. Aber ich hole da was Erbauliches raus.
1. Dummheit neu beschreiben
Bei rot aus Prinzip nicht über die Straße gehen ist eine Form von Dummheit (Medium: Mensch). Es gibt ein schönes neues Wort für dumme Menschen. Ich habe es in der deutschen Filmversion von Juno und im Roman Tschick gefunden; man darf es als gebräuchlich ansehen und selber verwenden: dummer Mensch ist einer, »der nicht die hellste Kerze im Leuchter ist«. Diese Neubeschreibung erzeugt fruchtbare bildliche Überlegungen zu besagtem Thema.
2. Die Neubeschreibung als eigener Fall
Gesetz der Physik ist, dass gesehen werden nur das kann, was leuchtet oder beleuchtet wird: »It’s always night, or we wouldn’t need light«, sagte Thelonious Monk (via Thomas Pynchon). Der Mensch ist seit mehr als zweihundert Jahren aufgeklärt. Man nimmt an, der Durchschnittsmensch ist »angezündet«: Er leuchtet von selbst.
Tun aber nicht alle! Die finstern Kerzen pflanzen sich fort. Die Dummheit wächst in ihren Kindern weiter. Dunkelheit bleibt bestehen. Night prevails. Das Feuer der Aufklärung war bislang außerstande, diese Kerzen anzuzünden.
Sie bedürfen weiterhin der Anleuchtung. Das Licht ist ausgelagert. Beispiel Straßenverkehr: Anstatt im eigenen Bewusstseinssystem eine Leuchte zu haben, die einem sagt, wann man die Straße überqueren kann, hat der Dumme seine Leuchte in der Verkehrsampel. Schaltet diese auf grün, geht er los. Sein Tun und Lassen wird geführt von einem Tunnelblick auf eine Ampel, der 99,5% des Sehfeldes – wo es zu entdecken gäbe, ob denn überhaupt ein Auto in Anfahrt ist – außer Acht lässt.
3. Recherche in der Literatur
Weshalb das Befolgen der Ampel dumm ist und was für einen aufgeklärten Umgang mit ihr erforderlich ist, hat Karl Heinz Bohrer bereits geschrieben. Ich zitiere die ganze Stelle aus seinem 1991 im Rahmen seiner »Provinzialismus«-Kolumne und 2000 in einem danach benannten Sammelband erschienenen Essay:
»In einer hochangesehenen liberalen Traditionszeitung der noch immer schönsten unserer Rheinstädte war kürzlich die Wehklage darüber zu lesen, daß immer mehr Fußgänger sich beim Überqueren der Straßen nicht an die Verkehrsampeln halten, es deshalb zu vielen schweren Unfällen komme und das in Aussicht gestellte scharfe Eingreifen der Polizei gegen solche die Ampeln mißachtenden Fußgänger nur zu begrüßen sei. Ich erinnere mich an eine der ersten Deutschland-Nummern des amerikanischen Magazins Life nach dem Kriege, in dem der noch immer manifeste »Kadavergehorsam« der Deutschen, ihr fragloses Befolgen öffentlicher Anweisungen unabhängig ihres Sinns oder Unsinns daran abgelesen wurde, daß sie auch dann nicht bei Rot die Straße überquerten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen sei.
Zweifellos überlebt der Verkehr der großen westeuropäischen Metropolen nur unabhängig von den Regulationen der Verkehrsampeln. Das setzt ein zivil sensibles Verständnis zwischen Autofahrern und Fußgängern voraus, ein gewisses Augenmaß intelligenter Improvisation jenseits der Regeln, und einzelne westdeutsche Großstädter, besonders die jüngeren, beginnen sich so, nämlich urban, zu verhalten [Hervorhebung IWBL]. Offenbar wird es aber vom System nicht zugelassen, und die journalistischen Tugendwächter einer Ideologie des gefahrlos Netten geben dem ihren Zuspruch.«
4. Phänomenalisierung
Ich finde diesen Gehorsam auch noch im Jahr 2010. Und zwar in Wien. Ich liste auf, wann und wo mein und anderes urbanes Verhalten vom Pöbel beschimpft wurde:
• Fuhr in Wien ca. März 2010 mit dem Rad von der Avedikstraße kommend bei rot rauf zur Schmelzbrückenrampe; junge männliche Stimme rief, in Wiener Dialekt, mir hinterher: »Bist farbenblind?«
• Fuhr in Wien Okt. 2010 mit dem Rad über die gesamte Mariahilferstraße, ohne auch nur einmal vor einem der niedlichen Zebrastreifen für Shoppers und Shopping Sherpas stehen bleiben zu müssen. Das missfiel einer verwahrlosten, aus einer Dose Schwechater Bier trinkenden Frau mittleren Alters; sie kläffte, in Wiener Dialekt, mich an: »Bist farbenblind?«
• Las im Okt. 2010 auf Facebook diese Meldung eines (Wiener) friends, der 20 Euro Strafe zahlen musste, weil er »Verhalten eines Fußgängers« (?) an den Tag gelegt und die Straße bei rot überquert hatte. Um halb drei in der Nacht.
Zusammenfassend kann ich sagen: Es gibt wirklich diese schamlosen Denunzianten in Wien, und es sind, curiously enough, Einheimische, d.h. de facto Städter. Wenn, nach Georg Kreisler, Wien erst ohne Wiener schön wäre, ist Wien erst ohne Wiener eine Metropole!
Die Polizei ist ebenfalls tatsächlich so bescheuert. Aber dazu habe ich von einer eigenen Begegnung zu berichten. Und die ging nicht derart peinlich und finanziell katastrophal zu Ende wie jene meines friends; nein, sie verlief heroisch, und ich muss weit ausholen, bevor ich sie schildern kann.
5. Ästhetik des Widerstands
Karl Heinz Bohrer ist ja Gott sei Dank in seinem Leben nicht alleine damit beschäftigt gewesen, die Dummheiten seiner Landsleute zu beschreiben. Bohrers »große Leistungen« sind literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu romantischen Texten und Texten der klassischen Moderne von Baudelaire bis Ernst Jünger.
In einer seiner Abhandlungen nennt er die Gewaltausbrüche in Heinrich von Kleists Erzählungen als Merkmal von dessen »frappierendem Stil«. Kleist wollte erschüttern. Er spitzte seine Handlungen auf eine Gewalttat zu. Oft, darauf weist Bohrer hin, werden sie von geradezu gewalttätigen Blicken begleitet. Z.B. in der berühmten Schlussszene von Michael Kohlhaas: Bevor Kohlhaas den Zettel verschlingt, hält er »das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet«. Erst mit diesem Blick macht er erkennbar, wem sein finaler Gewaltakt, das Vernichten des Zettels, gilt.
Ich teile nun stolz mit, dass auch ich von einem Polizisten in betreff Verkehrsampel angepöbelt wurde – und in frappierendem Stile antwortete. Ich will versuchen, den Hergang dieses Ereignisses zu schildern, als ob ich Kleist wäre:
»Ich kam, abends, vom Supermarkt, und blieb an der Kreuzung, die ich täglich, ruhig und routiniert, kreuzte, und deren Ampelordnung ich, gleichsam wie meine Jackentasche, kannte, zunächst stehen, da aus der Ferne ein Audi, mit lautem Geräusche, heranzog, und ich wusste, aus Lebenserfahrung, wie schnell solche Raser, das Auge täuschend, zur Stelle sind. Als, wie ein Pfeil, der Audi vorbeigezischt, setzte ich mich in Bewegung, und ging, von keinem Schafe rings um mich nachgeahmt, hinüber, auf die andere Seite; und war dort, weiter in Richtung meiner Wohnung, einige Meter unterwegs, als aus dem Auto einer Polizeistreife, dessen Fensterscheibe gleichmäßig, durch elektronische Motoren, hinuntergezogen worden, ein Mann, mit kurzen Haaren, ein derbes, erzürntes Gesicht mir entgegenstreckte, und, weil ich derlei Hässlichkeiten aus Gewohnheit unbeachtet lasse, mir zurief, »da ist jetzt aber rot!« – worauf ich, in meiner städtischen Betragung verletzt, ein trotzig Wort mir überlegte; anstatt jedoch, wie endblöd, dem bellenden Aufrührer zurückzubellen, schwieg ich, und richtete, ohne Stehenzubleiben, mit einem kalten Blick, der »fick dich!« bedeutete, mein Haupt in Richtung Ampel, die, den Kollegen des Aufrührers zur Losfahrt zwingend, in, genau, diesem Moment, als Vervollkommnung meines Blickes, grün zu leuchten anfing.
Die Fensterscheibe wurde hochgeschoben, das Auto rollte ab, und von hinten kamen die Schafe.«
So gehört es sich.
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