08.05.2014

Erlebnislegitimität

Du siehst etwas Interessantes, kannst es nicht fotografieren und dadurch deine Ergriffenheit nicht ausleben, und bezweifelst dann die Vollständigkeit dieses Erlebnisses.

Vorgestern fragte mein Kumpel A. aus Shenzhen, ob bei uns die Yangmei-Stachelbeeren-Saison schon angebrochen ist – The Yangmei Craze würde er in einer Schlagzeile heißen müssen, denn in Cixi als Yangmei-Hauptstadt scheint in den zwei Wochen wo sie genießbar ist das Pflücken, Zurverfügungstellen und Genießen dieser Steinfrucht aller andern Werktätigkeit untergeordnet. Rasenden Beerenlieferanten geschuldete Verkehrsunfälle müssen ungeklärt bleiben: als mir voriges Jahr ein Geländewagen aufs Auto auffuhr, hinterließ mir der Fahrer seine Visitenkarte und machte sich mich Blick auf seine dunkelrot-grün wuchernde Ladefläche aus dem Staub.
Schreib ich A., er möge sie noch eine zeitlang reifen lassen; sehe aber am Abend beim Kauf einer Papaya die ersten Körbchen mit Yangmeis, obligatorisch in Farn gebettet. Schuldig der Fehlinformation bin ich! Schuldig des Drückebergertums – denn ich weiß, er wird welche per Express haben wollen und ich möchte das rauszögern. Aber groß sind sie eh noch nicht, sehe ich, und kann wieder reinen Gewissens mein gefälltes Urteil aufnehmen, wonach noch zu warten ist. Und diese momentane Sicherheit, ausgedrückt durch ein Foto der winzigen Beeren, möchte ich ihm mitteilen.
Ich kann dieses Fotogetue aber nicht leiden und habe gegen das Einswerden mit dem Smartphone die vollen Bedenken. Aber irgendwie komm ich mir vor, wenn ich solche Gelegenheiten zum Fotografieren sausen lasse, als ob sie nicht stattgefunden hätten. Früher, so um 1774, hätte ich so ein Erlebnis nach Hause getragen und hätte in einem Brief dem entfernten Freund davon erzählt. Heute fallen Erleben und Mitteilung zusammen.