31.10.2013

Binman's Dance Floor

Die einzige erträgliche Musik in China kommt aus den Radio- & Tonbandgeräten der Straßenmüllarbeiter.
In Österreich nennt man diese »Mistkübelausleerer«, da sie nach Jahrzehnten szientistischen Produktionssteigerungen wirklich nichts anderes machen müssen als den Müll, der in großen Abfallbehältnissen von relativ zivilisierten und mehrheitlich ordnungsgemäß vorgehenden Bürgern angesammelt und bereitgestellt worden ist, in einen Tank auf dem großen Mülllastwagen zu schütten.
In China fahren Müllfrau und Müllmann ihr eigenes Dreirad mit Müll-Ladefläche, und sie sind keine Abholer von vorsortiertem Abfall. Sie sind Müllaufleser. Sie gehen nicht selten mitten auf die Straße, um dort ein Taschentuch mit der Müllzange aufzupicken. Sie holen den Müll von dort ab, wo er anfällt. Daher ist es für die Chinesen so belanglos, wenn jemand ein Taschentuch oder eine Plastikflasche irgendwo hinwirft, »wie wenn in Eulopa ein Lad umfällt.«
Wann immer ich in China vorhabe, Abfall in einen dafür vorgesehenen Behälter zu entsorgen und mein Vorhaben artikuliere, werde ich mit einem Lächeln ermuntert, ihn einfach fallenzulassen, denn »da kommt schon wer das wegräumen.«
An den unvermutetsten Stellen kommen sie, auch auf Autobahnen, wo ihre Straßenquerungen in etwas schnellerem Gang erfolgen. Vorgestern sind mir zwei auf der G15 nach Shanghai begegnet.

Die Müllarbeiter sind in ihrer derzeitigen Form schwer von den Straßen wegzudenken und wären schwer durch ein effizientes System von Lastwagen und Abholern zu ersetzen. Solches hätte zur Voraussetzung ein funktionierendes Gesellschaftssubsystem: die Zivil-Müll-Gesellschaft der Gesellschaft der Gesellschaft, die einen Ekel vor herumliegendem Müll entwickelt hat sowie Wut der moralisch Beleidigten gegenüber Müllverursachern.
So ein System wäre in China nur in Verbindung mit hohen Geldstrafen à la Singapur umzusetzen. Und es würde zunächst sinnlos erscheinen, da das Ekel/Wut-Problem vom bestehenden, hochdynamischen System der mobilen Müllarbeiter mit ihren Dreirädern mit Ladefläche gelöst wird. Statt Wut über unhygienische, die Gemeinschaft beschmutzende Mitbürger oder über eine schlecht organisierte Müllentsorgungsverwaltung empfinden zu können, wird auf wenig sauberen Straßen Chinas höchstens die Nase gerümpft wie über eine schlampige Hausfrau, die schon länger nicht geputzt hat.
Genau dieser Fall ist aber selten anzutreffen, zumindest in jenen aufstrebenden Großstädten der 1. bis 4. Größenordnung, deren Straßenbild als gepflegt im westlichen Sinn bezeichnet werden kann – denn dort scheint das System perfektioniert worden sein. China profitiert von seiner großen Bevölkerung: es sind jetzt genügend Arbeiter vorhanden, denen ein möglichst kleines Gebiet zugeteilt werden kann.

Das vorstehend notierte stimmt vielleicht nicht. Außerdem interessiert mich einzig:

Ihre Rolle als Erhalter öffentlicher Sauberkeit führen die Müllarbeiter in blauen, zweiteiligen Uniformen und Kegel-Strohhut aus. So schnell der Müll immer zu verschwinden scheint, so langsam, gelassen und ungehetzt gehen sie herum oder treten in die Pedale ihrer Dreiräder. Stoisch nehmen sie die hupenden Autos wahr, die keine Sekunde verschenken möchten, um sie die Straße queren zu lassen. In China heute ist der Autofahrer, der eine Plastikverpackung auf die Straße wirft, meistens derselbe, der hundert Meter weiter penetrant einen Müllarbeiter anhupt, weil der ein Stück Müll von der Fahrbahnmitte entfernt und dabei etwas zu gemächlich sich bewegt.
Die Erscheinung der Müllarbeiter auf der Straße ist ein Alltagsbalsam für mich. Die genannten Huper hasse ich. In den Müllarbeitern sehe ich Vorbilder. Sie ertragen die Exzentrizität der Kleinbürger, deren Ungeduld, die Unhöflichkeit, ohne, wie ich, zu erzürnen und unkontrolliert Gegenwehren der Hände und des Mundes hochkommen zu lassen.
Ihre Uniformen ein ästhetischer Segen: Ordnung in der wüsten Kleidungsidiosynkrasie, ihre schlichten Zweiteiler machen sie offiziöser als die dunklen Hosen und flapsig ausgestrickten weißen Hemden und Blusen der Bankangestellten.
Als Soundtrack haben die Müllarbeiter sich eine wunderbare Musik gewählt: die von wenigen, altertümlichen Instrumenten begleiteten Sprechgesänge aus alten »Opern«. Es gibt die Pekingoper, die Kunqu Oper etc. ... für das westliche Ohr klingt alles »chinesisch« – und eher ungenießbar.
Die Müllarbeiter hören ausnahmslos eine rhythmisch flotte Variante dieser Musik, die ich phänomenal gerne mit »Devils Dance Floor« von Flogging Molly vergleichen möchte und theoretisch mit dem, was bei uns RocknRoll heißt: coole Musik, ohne Naivität, die Rolling Stones: die einzige britische Band, die Lou Reed mochte. Das sind vorschnelle Vergleiche.

Gestern beim Besuch in einer Handelsfirma in Cixi, Provinz Zhejiang, in der gerade Paletten aus Spanplatten zusammengenagelt wurden, lief eine Aufnahme jener charakteristischen Musik. Die Hilfsarbeiter der Exportwirtschaft hören diese Musik ebenso.




Tonaufnahme: Wilhelm, 1774 (2013)
Fotos: Wilhelm, 1774 (2013)
Bild 1: Straßenmauer in Shengzhou, Shaoxing
Bild 2: Mistkübel in Beilun, Ningbo
Bild 3: Hausmauer mit Werbung für Kalligraphie (书法 shu fa), Xinchang, Shaoxing

27.10.2013

Si radicalisses

Heut’ hat’s Presschen wieder einen wunderbaren Apostroph g’setzt. Ein Ausspruch der Sängerin Angelika Kirchschlager wurde aufgeschrieben als: »Ich radikalisier’ mich immer mehr.« Das liest sich herrlich Wienerisch-Nestroyanisch.
Ihr Buch könnte »I’ erfind’ mi’ jed’n Tøg neu« heißen  jawohl, mit einem Chutzpe-Apostroph auf dem »neu«! Und mit dem auf korrekte visuelle Repräsentation eines Dialektlautes abzielenden ø. Und mit dem brav harten t, eine Schreibweise wie in gedrucktem (und meistens auch so gesungenen) völkischem Liedgut. Das wäre so spitzbübisch, klass’ und leiwand wie ein gelungener Jodler. Ich meine es ernst.
Ich interessier mich jeden Tag aufs Neue für Schreibweisen. Neulich habe ich einen Buchstaben erfunden, der den Dialektlaut »eiü« darstellt, das

22.10.2013

Vorschlag für Sitzbänke Mariahilferstraße

Diese Bänke könnten sie auf der Mariahilferstraße aufstellen.








Sie stehen im neuen Institutsgebäude der Informatik und Publizistik in der Währinger Straße 29, Wien. Zwei verbundene Trapeze, deren Schenkel so einigermaßen den Körper in eine erträgliche, dem Lernen, Lesen, Arbeitenschreiben zuträgliche Lage des Körpers versetzen. Die Füße können etwas nach hinten gezogen werden und stoßen nicht an eine senkrechte Wand an, was bei allzu schlichten Designs die Gefahr ist. Der Rücken wird von der sanft geneigten Lehne unterstützt.
Unter den ganzheitlichen Bänken stehen auch welche ohne Rückenlehnen. Hier können Leute Platz nehmen, die die Kunst des Schneidersitzes beherrschen. Gelungene Mischung.
Wie bei allen meinen Rückenlehnenkommentaren gilt hier, dass ich keine richtige Art zu sitzen, z.B. eine Rückenanlehnpflicht, propagiere, sondern lediglich das Vorhandensein von Rückenlehnen einmahne. Wo Bänke neu aufgestellt werden, sollen sie, also zumindest zum Teil, eine Rückenlehne haben. In bildlichen Entwürfen der Neugestaltung (2014) der Wiener Mariahilferstraße unter der Aufsicht der Stadträtin Maria Vassilakou gibt es keine.

12.10.2013

Die Verbergung der Pflastersteine

Verbildlichungen der zukünftigen Mariahilferstraße wurden veröffentlicht. Den Kommentierern des Presschens zischt die gehörige Portion Zornschaum aus dem Mund. Manche empören sich, schwer zu sagen ob im Ernst oder als Spitze gegen die Grünen gemeint, über die ins Bild gesetzten bzw. schändlicherweise nicht gesetzten Leute.
Die Politik bietet dem Volk eine Vision der Zukunft, um den Anschein zu erhalten, diese sei von den Bürgern mitgestaltbar. Einmal vorgestellt, wird die Vision als Scheibe benutzt, auf die alles geworfen werden kann (und zwar Dartpfeil-, nicht Diaprojektor-mäßig), was man den Politikern immer schon sagen wollte.
Die zu bestreitende Frage, ob die Mariahilferstraße gepflastert werden soll, bleibt unbestritten. Da das spitzfindige Volk zeigen muss, dass schlecht gephotoshoppt wurde (die simulierten Fußgängerinnen »schweben«), und wie toll es die Bedeutung des Fehlens von Menschenschatten auslegen kann.

Wichtiger als Trampoline, Soziologie und Utopienästhetik:

Pflastersteine legen oder nicht?
Die wagemutigen Skateboarder von New York, wie sie neulich in der dortigen Zeitung beschrieben standen, kämen auf ihnen gut zurecht, es handelt sich um flache, glatte Kunststeine.
Sie dürften tatsächlich bremsend auf Autofahrer wirken. In der Mariahilferstraße wäre das unnötig, da es hier schon bisher nur langsam voranging. Pflastersteine würden bloß zur Kennzeichnung der Mariahilferstraße als jene lässige Zone beitragen. Erst mit den Pflastersteinen würde Stadträtin Vassilakou einen auch für die Belämmerten unübersehbaren Stadtbau-Akzent setzen.
Ich persönlich will keine, weil sie mir vorkommen wie ein Provinzhauptplatz und wie ein Spießergarten und weil ich die unermüdlichen Betonplatten Hongkongs schätze.

Sollen neue Sitzbänke mit Rückenlehnen ausgestattet sein?
Rückenlehnen fehlen in der Vision fast gänzlich. Die, die es gibt, sind kantig und dienen zugleich als zweite, höhere Sitzebene. Müsste testsitzen können.
Die meisten projektierten Sitzbänke jedenfalls haben keine Rückenlehnen. Sie wären auszuhalten, hätten vielleicht sogar ergonomisch-volkswirtschaftliche gute Auswirkungen, es gibt vielleicht Leute, die keine Rückenlehnen benötigen. Ich vermute weiterhin eine Designkrise und bevorzuge angenehme Sitzbänke.

Soll die alte Mariahilferstraße wiederhergestellt werden?
In dieser Petition wird diese Forderung erhoben. Ich hatte überlegt, zu unterschreiben, finde sie aber reaktionär, besserwisserisch und gesättigt-bourgeois-dekadent.

Städter (pej.)

Es gibt einen Städter in dem Sinn, wie es ein Landei gibt. Er kennt Verhaltensweisen nur aus seiner Stadt. Seine Stadt ist nicht die kultigste der Welt oder er ist in ihr nicht gerade dem Füllhorn der möglichen Wahrnehmungen ausgesetzt. Für dieses alte Phänomen habe ich gerade nur zwei Beispiele parat:
Wer beim langen Bergabfahren dauernd auf der Bremse steht, ist entweder Wiener oder Holländer. (Diesen Vorwurf an städtische Autofahrer als bergtrottelig abzuweisen wäre kaum mehrheitsfähig. Autofahren und Motorbremse sollte der Städter beherrschen, zumindest wenn er autofahren möchte.)
In einer chinesischen Küstenstadt lernte ich den Städter kennen, der nachts grundsätzlich mit Fernlicht fährt, da er scheinbar nie in die Dunkelheit kommt, um dessen ursprüngliche Funktion erproben zu können. Er muss es einschalten, wozu hat er sein Auto? Dass er andere blendet, fällt ihm nicht ein, da er selber von den vielen andern Blendern geblendet wird und es für normal hält. Oder weil er verdunkelte Fensterscheiben hat, die in diesem heißen Landstrich weitverbreitet sind.
In dem Fall wäre ich der wenig urbane (lies das englische Wort urbane) Autofahrer: das dritte Beispiel, so wie Brad Pitt in Se7en die siebente Todsünde: zu kleinkariert, die Fensterscheiben zu verdunkeln und das übergrelle Stadtlicht und Nachtcruisen zu genießen wie Nachtschifahren.