06.11.2009

Wie ich mich im Studentenpöbel aufputschte

Generell: Um mich aufzuputschen trink ich in meiner Wohnung eine Flasche Wein, schließ mich an die Kopfhörer und dresch mir zwanzig geile Lieder rein.

Braucht es mehr? Gewisse Teile meines Hirns oder meiner Seele sagen ja. Eine abgefuckte platonisch-moralische Stelle sagt: »Sei dabei bei einem großen Aufputschen!« Ihr folgt der Aufruf meiner erbärmlichen, nie upgedateten Englisch-Software, die mir all die Obama-Momente vorspielt, die so fake sind wie die Mondlandung, und mir versichern, ich werde dabei sein, wenn »history in the making!« ist. Dann mein kategorischer Imperativ will mir wieder den Schwanz aufblasen, damit er größer wird als jener der 68er-Generation, und es ist beschlossen. Ich gehe.
Ich verlasse mein Reich, begebe mich in die schäbige Pöbelwelt, um meine schlechteren Selbsts eines Besseren zu belehren: ihnen zu zeigen: es macht keinen Spaß, auf ne Demo zu gehen; Zeit für verlorene Ideale zu verlieren; vom Eisbären vergewaltigt zu werden; mein Geld von der Wurst-, Fleischballen-, Punschindustrie aus der Tasche gezogen zu bekommen.

Wie lief es? Versöhnlich. Es gab bei der Schlusskundgebung im Wiener Märzpark ein paar aufputschende Momente.

* Nach politischen Reden spielten die Attwenger. Wie ich, der intelligente Teil von mir, erwartet hatte, eröffneten sie mit »Ka Klakariada«; ihr Hit musste, anders als bei reinen Konzerten, gleich zu Beginn her.
Das Lied ist eine Litanei gegen den Common Sense; beim deutschen Namen genannt wird er in diesen Zeilen:
»Wenn [kleinkarierte Leute] ein Problem haben, und sie kommen durcheinand’, / dann kommen sie mit dem Ärgsten, und das ist der Hausverstand.«
Pöbel applaudierte, und ich fand’s auch stark, wie immer, wenn ich dieses Lied höre. Und ich höre es nur selten, damit ich es immer stark finde.
Es ist Therapie. Man bringt tanzend (ich schöner Geist: nur imaginierend) seinen Körper in Einklang mit der kraftvollen Musik und wird Eins mit dem Schlagzeugersänger: dem 46-jährigen, aber immer noch so »like, youthful« wirkenden Markus Binder. Wir trommeln ekstatisch und wünschen der Menschheit, in ihrer Scheiße zu ersticken, und indem wir das tun, befreien wir uns von ihr. (Erbärmliches Deutsch. Von der Menschheit befreit oder von der Scheiße?)

* Die Reden selbst waren voller Hausverstand; voller Solidarität, voller Anti-Kapitalismus, -Sexismus, -Rassismus –––– voll von Abstraktion, von Wörterbucheinträgen.
Solidarität bedeutet »Zusammengehörigkeitsgefühl«.
Rassismus bedeutet – keine Ahnung!!! Das steht in meinem Wörterbuch nicht. Das find ich witzig. Mein »Deutsches Bildwörterbuch für jedermann« von Brockhaus ist aus dem Jahr 1940. Weil ich hab nicht viel Geld, ich kann mir nur ein abgefucktes Wurmfraßwörterbuch beim abgefuckten Antiquaren leisten. Jetzt haben sie 1940 Begriffe gedruckt. Da war der Rassismus en vogue, war lebendig, und demnach brauchtest du ihn nicht im Wörterbuch definieren. Und demnach lebt der Rassismus heutzutage nicht, weil heute steht er ja im Wörterbuch; und er ist in aller Redner Munde, an diesem Abend: der Hausverstand ist ihr einflüsternder Beistand.

* Weg vom Hausverstand! Weg mit dem Hausverstand! Das Geile an dem Attwenger-Song ist ja die Aggressivität: Mr Common Sense wird mit Pisse getränkt und in die Luft gesprengt.
Wenn ich mich an diesen Abend zurückerinnere und mein tadelloses Gedächtnis verweigert die Herausgabe von Hausverstandsinhalten, bleiben nur wenige aufputschende Punkte über, die es während der politischen Reden gab:

* Ein Aktivist, namens »Ben«, aus Deutschland, sprach flott. Er rief: »In Deutschland brennen die Unis!«, und wie er das gesagt hat, und im Schwall seiner rausfetzenden Worte, verstand ich das, als ob ein Feuersturm aus Wien, über österreichische Provinz, nach Deutschland hinfegend, dies verursacht habe.
Das war geil, und ich bekenne, meine vom vielen Naziunterricht und Nazitratsch und Nazichic versaute Fantasie – unfähig, eine Vorstellung ohne Naziges hervorzubringen – erarbeitete eine Story – we neuroscientists call them »constructs« –, in der dieses Mal der Deutsche nach Österreich kommt, in Österreich aufsteigt, Österreicher wird, und Deutschland an Österreich anschließt. ––– (Dieser Gedanke kommt mir einmal pro Woche; wird noch lange so kommen; bis er Wirklichkeit wird. Aber ich verspreche, ich schreibe das hiermit zum ersten und letzten Mal auf.)

* Eine feministische Lesbe – als welche sie und zwei Kolleginnen offiziell vorgestellt wurden und auftraten!!! – forderte verpflichtende Auseinanersetzung (auf der Uni, was es, z.B. in der Germanistik, schon gibt) mit feministischen Inhalten. Sie sprach davon, dass der Sexismus schuld daran sei, dass viele Frauen verunsichert seien.
Was, die hat mich aufgeputscht? Ja! Mir gefiel ihre Inszenierung ihrer eigenen Unsicherheit: inmitten eines (von einem zerschnudelten Blatt Papier abgelesenen) Satzes tat sie so, als bringe sie ein Wort nicht heraus; sie setzte erneut an, es zu sagen; sie scheiterte; sie versuchte es wieder; sie versprach sich wieder; wieder; wieder ––– und sagte endlich: »Wurscht!« und fuhr mit dem nächsten Wort fort. Alles hat ein Ende, und »Wurscht!« ist von allen Wörtern dieser Lesbe das Ende!

* Eine attraktive Taubstumme trat auf. Man begrüßte sie mit der stillen Gebärde für Applaus: über dem Kopf raschelnde Hände. Sie war sehr hübsch, mit langem blonden Haar, dunkelgrüner Jacke, in guter Form; und beinahe hätte auch ich geraschelt (ich hatte mir geschworen, nie zu klatschen oder sonstige Zustimmung zu geben). Sie begann. Sie stand unter Spannung. Sie war nicht nervös. Sie redete eifrig. Sie setzte ihre Hände und Arme wie Waffen ein. Sie bewegte sich wie ein Slalomprofi. Sie boxte Worte. Sie redete rappend. Ich meine das nicht ironisch. Sie war super. Aus ihrer Rede strömte Kraft. Nach jedem Statement hielt sie inne, erwartete Applaus; das Dolmetsch humpelte nach, war nie fertig mit dem In-Worte-Fassen; schon streckte sie die Arme nach unten, mit den Händen, the palms of which were challengingly directed toward the people, nach oben fahrend; mit dieser Bewegung Applaus hervorziehen, das Ausbrechen von Applaus beschleunigen wollend; ––– sie war bewegend und mitreißend.

* Das Dolmetsch, ihre Übersetzerin, sprach anfangs zu leise ins Mikrophon, das ja auch dazu gedacht ist, das Kleine (mikron) zum Tönen (phonein) zu bringen.
»Lauter!«, schrie wer, und einige schmunzelten über die Ironie der Situation: Die lautlose Rednerin konnte ja nichts, in unserem Sinne, hören, und auch keine schönen Töne produzieren; das »Lauter!« galt natürlich dem Dolmetsch. Aber die Ironie schlägt zu: Für eine Hundertsel Sekunde denke ich, dieses »Lauter!« gilt der Stummen, und ebenso lange hoffe ich, dass sie es erhört, sich ein Herz fasst, und anfängt, zu sprechen, »echt« zu sprechen! ––– Nur: das Furchtbare an der Situation: ihre stille Rede, die Dynamik ihres Körpers, die blitzschnell sich windenden, Figuren zeichnenden Hände, ihr Mund, der das Gesagte stumm interpunktiert, – diese stille Rede kann man nicht in gesprochene Sprache, parole, übersetzen!!!

* Daher schließe ich mich einer Forderung der Taubstummen an: Minister und Unis, stellt taubstummes Lehrpersonal an. Ob es dann, wie immer, nicht nur gute Redner geben wird?