10.11.2009

Retro-Erbauungen 1

Es gibt mittlerweile bessere Erbauungen als das Lesen. Ich bringe in diesem Beitrag und in kommenden Beiträgen meine Trauer über diese Tatsache zum Ausdruck und versuche, den geschätzten Leser von der Notwendigkeit der Zerstörung der Welt und des Neubezugs alter Höhlen zu überzeugen.

In diesem Beitrag gebe ich einen historischen Überblick über den Verfall des Lesens.

Das literarische Lesen gibt es, wenn es Schriftsteller gibt. Aber Schrift-Steller sind Poeten im Sinne Richard Rortys: Innovatoren des erbaulichen Lebens, Macher (poein) von Neuem, die nicht zwangsläufig auf Schrift angewiesen sind.

Sie brauchen die Schrift nicht mehr. Sie finden seit 200 Jahren im Sog der Techniker bessere Möglichkeiten, Erbauung zu produzieren. Sie haben je die ältere Technik der Erbauung gelernt, z.B. literarisches Lesen. Aber sie bringen diese Erbauung in neue Formen, und die Konsumenten dieser neuen Formen verlernen das Benutzen der alten (= literarisches Lesen).

Wer weiterhin auf das Benutzen der alten Formen besteht, muss zu Klassikern der Formen zurück, wenn er nicht den jeweils neueren Dadawahnsinn goutiert. Hingegen wer die neuen Formen (Film, Oper, Musical, Videospiel) genießt, wird in ihnen die großen Stoffe der Menschheit großartig neu aufbereitet finden. Die Neugier wird belohnt mit köstlichem Genuss.

Zum Beispiel war Stanley Kubrick ein guter Leser. Das Lesen von »Lolita« tat in ihm eine Zauberwelt auf. Er konnte diesen Eindruck nutzen und formen: Er verfilmte den Stoff. Man schaute »Lolita« und konnte Witz und Tragik des Textes von Vladimir Nabokov in gemütlichen zwei Stunden genießen. Ebenso verhält es sich mit einem aktuell gesehenen Poetenpaar: Zemeckis's »Christmas Carol« is better than Dickens's. And by the way, Zemeckis did the trick before: his »Forrest Gump« is better than Winston Groom's.

Ein zweites Beispiel zeigt diesen Vorgang noch ursprünglicher, und zwar durch Hinweis auf die Szenen, die Goethe schrieb, um die Kraft von Bildern darzustellen. Man findet welche in den »Wahlverwandtschaften« (tableaux vivants) und in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (Galerie). Goethe war fasziniert von der audiovisuellen, »lebendigen« Darstellung von Ideen. Goethe wäre heute ein Filmemacher.

Die Poeten verlassen die Schrift. Das Publikum zieht mit. Ein lesender »Potter«-Pöbel und nur wenige »good readers« bleiben zurück. Am literarischen Lesen setzt Verfall ein.

Philip Roth, einer der am meisten bewunderten Schriftsteller unserer Zeit, nennt Literatur ein »great lost human cause«; er erwartet das Ende des Verfalls in 20 bis 25 Jahren, wenn niemand mehr gute Romane lesen werde. Weisheit geht verloren, da niemand mehr sie zu entdecken, zu lesen imstande ist.