In diesem Beitrag widme ich mich der Verschriftlichung der deutschen Sprache. Ausgehend von der Betrachtung eines gewissen wienerischen Manierismus in der Tageszeitung »Die Presse« (fortan »Presschen«, welchen abfälligen Spitznamen ein leider unverlinkbarer Freund ihr gegeben hat), entwickle ich Zorn gegen jede Art von solchem »schwankenden« Sprachbewusstsein und eine Neigung zum »ursprünglichen« Sprachbewusstsein Martin Luthers.
Ich behaupte dann: Menschen mit ursprünglichem Sprachbewusstsein können »stramm« sein, Menschen mit schwankendem Sprachbewusstsein nicht. Es liegt im Interesse jedes/r Volks(wirtschaft), in Grundschüler ein ursprüngliches Sprachbewusstsein zu programmieren, um Wohlstand zu erhalten.
Ich lese im Presschen Wörter, die gemäß dem »Wienerischen« lautgeschrieben sind. Ich lese: »Ruh’«, »Freud’«, »Fried’«, »Sünd’«. Dem derzeit korrekten Schriftbild (Ruhe, Freude, Frieden, Sünde) wird getrotzt, und gleichzeitig wird durch die Setzung des Apostrophs gezeigt, dass man trotzt. Dass der Apostroph dazu da ist, Auslassungen zu bedeuten, nutzt der Presschen-Redakteur schamlos aus: Er setzt den Apostroph, um zu zeigen: Wir sprechen unsere eigene Sprache. Wir mögen die Preußen nicht. Wir spielen den Sound unserer schönen österreichischen parole.
Es ist demnach nicht nur ein Norm-Ungehorsam, sondern die Setzung einer neuen Norm, wie die parole autrichienne (die in diesem Fall vom Wienerischen, von Grillparzer über Nestroy und jenseits bestimmt wird) als langue auszusehen habe. Sätze wie »Das ist eine Red’« erzeugen den Mythos des gesprochenen Wienerischen. Genauso wie jemand einmal das Walzerspiel der Wiener Philharmoniker zu mythologisieren versuchte, indem er behauptete, die dritte Viertelnote werde kaum noch angeschlagen, sondern, einem feinen Sahnehäubchen gleich, dem Vorherigen nachgehaucht. Würde man diese Spielart in Partituren vermerken, könnte man einen Apostroph verwenden!
Der Wiener Apostroph – ein Signifikant für heiter Nachtorkelndes, Gemütlichkeit, eine gütige Stimme, Weinseligkeit.
Noch mächtiger ist die Ausstrahlung eines Apostrophs, wenn er im Feuilleton des Presschens steht. Denn das Presschen druckt die Überschriften der großen Artikel, oder ausgesuchte einzelne Wörter, im Feuilleton kursiv, damit unabhängig vom Inhalt der Überschrift ein eigener Mythos des geistreichen Feuilletonisten erzeugt wird.
(Exkurs. Wer sehen will, wie sich der Gott aller nachmodernen Schmetterling-Werbesujets, Vladimir Nabokov, über Journalisten lustig macht, dem sei dieses Video, 4:25–5:11, empfohlen. Nabokov verabscheut »journalistic clichés«, und er verabscheut Schriftsteller, die Wörter kursiv setzen, um tolle Gedanken darzustellen. Das Presschen-Feuilleton, das sich qua Feuilletonsein von journalistischen Klischees fernhalten will, tappt in eine andere Falle.)
Der Mythos des geistreichen Feuilletonisten verstärkt den Mythos aus den Elementen einer süßlich-morbiden »Viennität«.
»Das ist eine Red’«,
oder konsequenter:
»Das is’ eine Red’«
sind dann Das Wienerische.
Überschriften- bzw. Mythenleser werden ungewollt in den Strudel von Wienertum gezerrt. Und dieser Strudel ist nicht das süße Struderl, das Christoph Waltz in »Inglourious Basterds« verzehrt, sondern ein tödlicher Sumpf aus allen Zuckerrüben, die notwendig sind, um den täglichen Zuckerbedarf Wiens und seiner Touristen zu stillen, plus allen toten Körpern, die täglich in die Erde des Wiener Zentralfriedhofs spediert werden.
Man bleibt dergestalt kleben, dass eine Entwicklung zum produktiven Staatsbürger verhindert wird.
Anders gesagt: Man ist eben doch das süße Struderl. Man ist in dem Film ein witziger Einfall, aber allgemein, kulturell-mahlzeitlich betrachtet ist man ein winziges Element, Nachspeise, Epilog. Großer Braten: Macht, Höhepunkt ist man nicht.
Welcher halbwegs kosmokratische österreichische Politiker kann dem zustimmen?
Und wie kann man die zukünftige Generation vor diesem Strudel schützen?
Bei Gott, mit Luther!
Ich lese in Martin Luthers Predigt »über das Eheleben«, dass es eine »Sünd« gebe, und bin sofort aufgegeilt. Wie er das schreibt! So einsilbig! Wie es dasteht! Wie frisch es ist, wie zielstrebig! Wie unzweideutig! So – stramm!
Man sagt, Luther habe den Leuten auf den Mund geschaut – und demnach sah er auf den Mündern (»Münd«?!) das Wort »Sünd«. Nicht »Sünd’«. Also waren die Münd stramm. Die Münd gehörten den Leut. Die Leut waren stramm.
Ich nenne Luthers Skription »ursprünglich«, denn Luther war der erste deutsche Schriftsteller. (Nietzsche und Goethe verehrten ihn diesbezüglich.) Seine Skription ist der Ursprung deutscher Schriftsprache und im Zuge der Literarisierung bis zum Pöbel nachwirkend.
Wende ich mich wieder dem Presschen zu, wird deutlich, dass das Wort »Sünd’« ursprünglich empfunden sein mag, aber nicht ursprünglich geschrieben ist. Sein Ursprung ist das Jetzt. Sein Raum ist Wien.
»Sünd’« zu schreiben ist nach-ursprünglich: dem Sündenfall »Germanisierung des Schriftwesens« bloß folgend. Es ist ein von der Erbschuld, Luthers Deutsch, erfasstes Kind, aber nicht der Zeuger oder die Gebiererin. Luther ist Adam, das Presschen ist Kain. Auf seinem Haupt trägt Kain einen Apostroph.
Wo und wann immer ich das Presschen sehe: der Versager Kain steckt drin, denn Kain schreibt ja diese Zeitung.
(Ich könnte weiterätzen und dem oft die Werbelinie wechselnden Presschen raten, die berühmte, jahrelang mannigfaltig variierte F.A.Z.-Werbung zu remixen: »Dahinter steckt immer ein Versager.«)
Ursprünglich schreibt man »peccatum«, dann kam Luther und schrieb »Sünd«, ihm folgten Leut à la Goethe, Grimm, Duden, die ein »e« hinzufügten. Dem Wiener Presschen-Redakteur bleibt nichts, als sich in seinem Jetzt vom Lauf der Geschichte bisher marginalisiert zu sehen: Denn er kann nicht »Sünd« schreiben, weil er »Sünd’« denkt, und nicht »Sünde« denken, weil er »Sünd’« schreibt.
Ein Kain sein heißt, ein Verlierer zu sein.
Ich versuche, dies »abgekühlt« zu formulieren. (Karl Heinz Bohrer verwendet gerne die Wendung »etwas systemtheoretisch abkühlen«, siehe diesen Kommentar sowie einen Aufsatz über fehlenden Willen zu Strammheit in Merkur, 61. Jg., 8/9, S. 667. Zum Systemtheoretiker bringe ich es nicht, aber »abkühlen« ist eine gute Metapher.)
Ein Nicht-Hochdeutsch-Programmierter empfindet die hochdeutsche Skription als Norm. Empirisch lässt sich feststellen, dass er sich daran hält. Seine von der Norm abweichende Sprache wird er in eine normierte Skription immer nur als Irritation, als ironische Geste, als »Schmäh« einbauen können.
Poetisch lässt sich feststellen, dass ein »Schmäh« nur ein »Schas« (hochdeutsch: Furz) ist.
Erbaulich lässt sich dann sagen:
»Was aber Furz ist, fahre zum Teufel.«
Ein Leben abseits der Skriptionsnorm ist ein Leben außerhalb der herrschenden Klasse. Ein Leben für Loser, Schwächlinge.
Ich will kein Loser sein, und eine Volkswirtschaft braucht keine Schwächlinge.
Nietzsche würde jetzt fragen, hat man mich verstanden?, und ich glaube, das ist ein guter rhetorischer Trick, um Redundanz zu verdecken. Ich fahre also fort:
Als Kain lebt man in einem perpetuierten Pinballsprung (ein Wissenschaftler würde sagen »oszilliert«) zwischen dem eigenen, als »ursprünglich«, und einem anderen, als »legitim ursprünglich« empfundenen Sprechen.
Und weil ja Sprechen Sprache ist, und Sprache, Heidegger und Gadamer auf einmal zitierend, ein »Haus des Seins das verstanden werden kann« ist, befindet sich dieses Sein im Schwanken.
Wo aber das Sein schwankt, ist es nicht stramm. Und wo der Mensch nicht stramm ist, bringt er nichts weiter.
Und dass man was weiterbringen soll, darf ich jetzt aber bitt’schön als von einer breiten Mehrheit der Leut’ akzeptiert annehmen!
Ich kann der Mehrheit die notwendige Motivationssemantik besorgen.
Ich imaginiere den Namen der Wiener Stadtzeitung »Falter«, die übersetzt »schwanken« heißt. Ich erinnere ein Foto, das den Chefredakteur Armin Thurnher eine britische Tabloid-Zeitung lesend zeigt, auf der steht: »We must not falter!«
Und so rufe ich:
WIR DÜRFEN NICHT SCHWANKEN!
WIR WOLLEN STRAMM SEIN!
Hat man mich gehört? Ich hoffe. Nur sind noch nicht alle mit den Konnotationen zu Luther einverstanden. Ich werde als Kämpfer für Strammheit in Wien mit Luther und seiner nie entluthiferisierten Vergangenheit die Leut nicht zum Rocken bringen.
Ich spreche daher mein strammes Sein aus im Namen »Beethoven«.
Den lieben die Wiener. Und der Träger dieses Namens, Ludwig van Beethoven, war ein Strammer, der auch am Hofe so wild sich betrug, dass man ähnlich den Franzosen angesichts ihres Revolutionspöbels nicht anders konnte, als zu kapitulieren: man bat ihn nicht mehr, das Zeremoniell zu befolgen. Goethe nannte ihn eine »ungebändigte Persönlichkeit«. Wir lassen dies auf uns wirken, forschen nicht weiter nach, und nennen Beethoven stramm.
Den Schwanker, den Falterer, den ontischen Wiener, wie nenne ich ihn?
Schwanker trägt in sich die Buchstabenkonstellation »wank«, »wank« hat das Substantiv »wanker«, und dies bedeutet auf Englisch »Wichser«.
Ich nenne den Schwanker »Wixer«.
Wer trug diesen Namen?
Eine Figur aus dem besten Stück von Nestroy. Einer der drei Freunde (neben Sporner und Stifler) des »Zerrissenen«, Herrn von Lips.
Ich schlage eine beliebige Seite auf; schon wird geschwankt.
»Wixer. Das is das Wahre. Klein muß a G’sellschaft sein, aber honett, nacher is’s a Passion.«
»Wixer (ihre Hand ergreifend). Liebes Handerl das! (...) Was glaubst a so? Stund’ gar nit übel z’samm’, das Paar Händ’?«
»Wixer. Da hab ich, glaub ich, auch was dreinz’reden; Eigenmächtigkeiten leid ich nicht.«
Wie gesagt, meine Argumentation könnte vor allem volkswirtschaftliche offene Ohren finden, da Strammheit wichtig für den Wohlstand ist. Man wird mithilfe meiner Ausführungen etwas Strammes von etwas Schwankendem unterscheiden können.
Ein Strammer stößt das Wort »Sünd« aus; es tost wie op. 92, vierter Satz.
Ein Schwanker sagt zuckersüß-ranzig »Sünd’«; er schmiert.
Wäre ich ein Kolumnist des Presschens, or in fact any columnist, würde ich diesem Satz noch diesen typischen peinlichen letzten Satz aufsetzen: »Er schmiert kursiv.«