27.07.2013

Die schmutzigen Böden Sions

Ein wesentlicher Teil von Chinas urbarem Land ist durch Schwermetalle und übermäßigen Gebrauch chemischer Düngemittel verschmutzt: zwischen 8% und 20% wären abzuschreiben oder aufwendig zu säubern, stimmten Schätzungen von Forschern und herrschten eine Partei und Regierung, die dem Volk diese Schätzungen offen mitteilten. Artikel im Wall Street Journal.
Daher das mulmige Gefühl, mit dem man hier zu Tische sitzt: jeder Bissen ein schlechtes Gewissen.

Ein Wort zur Überschrift: Ich nenne China Sion durch Mischung des lateinischen Wortstammes sin, chinesisch, mit Zion, dem Hoffnungsbegriff einiger Juden und Negrosklaven für ihren jeweiligen Zukunftsstaat. SION als Klang, als Name für ein zukünftiges China, ein abermals in Wohlstand erstrahlendes, paradiesisches Reich, das die Mitte der Erde bildet, SION als Name für Xi Jinpings imaginierten Staat (bislang lediglich Chinese Dream genannt), ein großer Wurf. Wessen Ohren fangen ihn?

21.07.2013

Zoff mit der Ex

Meine Exfreundin trat gestern Abend ein halbes Dutzend Mal mit dem Fuß gegen meine Wohnungstür. Heute fragte mich schreiend mein Nachbar, als er mit seinem entblößten Rücken, mit Saugmalen chinesischer Medizin, vom Müllsackentsorgen kommend, den Gang herbeitrottete, was mir einfalle, mit chinesischen Mädchen zu spielen. Meine Nachbarin, die Vermieterin meiner Wohnung, ermahnte mich wegen der Türe zu „Vorsicht“ – die aufzubieten mir schwerfällt, ich lasse meine Türe ungern offen, um deren Außerstandsetzung durch eine wahnsinnige Frau zu verhindern und jener Zugang zu gewähren, obwohl sie mir Stunden zuvor SMS schrieb wie „Ich hasse dich!“, „Ich habe genug!!! Dich zu kennen ist ein großer Fehler!!!!!“, „Die Schmerzen die du mir jetzt bereitest werden immer mehr, ich möchte dich nie wieder treffen, ich bitte dich auch, mich besser nicht aufzusuchen!!!!!“

09.07.2013

Venedig geht unter

Die Lektüre zum Gesang von Nino aus Wien: Peter Sloterdijk:
Nicht oft genug kann man nach Venedig fahren, wenn man wissen will, was Italien und Europa bevorsteht. Die Stadt verkörpert die Lektion, daß langsame Dekadenz das größte Privileg ist. Falls Dekadenzbeschleuniger auftreten, Berlusconi ist ein solcher, wird der sanfte Abstieg zum Sturz. Es könnte passieren, daß vom schönen Italien in Kürze nicht mehr übrigbleibt als von Ägypten nach dem Erlöschen der Pharaonen und ihrer stillosen Erben, eine entgeisterte Biomasse, in der es spukt, ohne daß aus dem gelegentlichen Aufflackern von fahler Energie ein neues Leben entsteht. Dann würden auch hier irgendwelche bösen toten Seelen Reisebusse in die Luft sprengen und letzte Touristen liquidieren, im Namen einer Wut, die sich selbst nicht versteht. Noch fünf Jahre Berlusconi, und dieses Land bringt nichts mehr jenseits von Ejakulationen und Verdauungsgeräuschen zustande.
Zeilen und Tage, Notizen 2008-2011, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 294 (datiert 20.9.2009)

Ich bin Edward Snowden

Ein mäßig gebildeter Chinese mittleren Alters fragte mich gestern, ob ich meinen Reisepass nicht Edward Snowden leihen wolle, um ihm die Abreise aus Moskau und die Reise in ein gnädiges Land zu ermöglichen. Es traf mich, dass der Mann eine Ähnlichkeit zwischen mir und dem amerikanischen Verpfeifer von Staatsgeheimnissen sieht, überrascht mich aber nicht. Schon beim ersten Anblick des Portraitfotos Snowdens kam mir das Gesicht bekannt vor. Dann sah ich ein Foto des Snowden-Schauspielers in Hongkong. Wir sind ein Typus. Der Kreis der dunkelblonden Traurigschauer aus westlichen Ländern, deren durch Disneyfilme gestählte Vorstellung vom Guten die wirkliche böse Welt herausfordert und zur Staatenlosigkeit verdammt ist. Ein virtueller Staat, oder eine neue Stadt sind zu bauen.

08.07.2013

Englische Komposita

Das Schmunzeln über deutsche Komposita ist ewig am Flackern. Als Alltagsleser stoße ich in den englischen Publikationen regelmäßig auf das Heraufbeschwören langer Komposita und eine halbbackene Hypothese zum deutschen Charakter. Nie fehlt der Hinweis auf Mark Twain und seinen Aufsatz über die deutsche Sprache.
Gleichzeitig werden in denselben Publikationen vollviele englische Komposita verwendet, die zwar von einem Leerzeichen getrennt sind, aber sich so lesen wie ein Kompositum und, ins Deutsche übersetzt, so merkwürdig und zitatreif wären wie etwa das vor kurzem aus dem mecklenburg-vorpommerischen Landesrecht gestrichene Rindfleischetikettierungs...gesetz.
Diese Komposita sind in der journalistischen Sprache so allgegenwärtig, dass ich nur die am meisten gebrauchten und die merkwürdigsten festhalten möchte:
Eine "fortress balance sheet" wäre eine Festungsbilanz und ist damit im Englischen ein längeres Wort als im Deutschen.
Ein "once-in-a-decade-leadership transition" wäre vielleicht ein auch im Deutschen hässlicher Einmal-Pro-Jahrzehnt-Führungswechsel und wird nun so oft verwendet, dass der ursprüngliche Zweck der Hervorhebung, die Seltenheit volksrepublik-chinesischer Führungswechsel, schlicht verfehlt wurde - vor lauter Dekadennennung spürt man die Zeit nicht mehr, die durch die Einheit 10 Jahre so dahinfließt.
Immerhin schreiben Journalisten manchmal flapsig von einer "once-a-decade transition".
Ein "hairline crack" ist die präzisere Bezeichnung für einen Haarriss. Die deutsche Sprache hat mit diesem Kompositum unrecht und sollte haarartiger Riss, Risschen/Risserl oder feiner Riss sagen.
Ein "cornice failure" bezeichnet den Zusammensturz einer oberen Schneeschicht, ein Schneebrüstungsfehler oder Schneegesimsfehler. (Hier von Fehler zu sprechen ist etwas menschlich, die Anleihe aus der Architektur, zumindest für Außenstehende, falsch, da ein Bauwerk, zumindest für einige Jahrzehnte, statisch und Schnee selbst in kurzen Zeiteinheiten dem Alles-fließt-Reich zuzuordnen ist. Das Bild von der bröckelnden Brüstung sollte alleine für: bröckelnde Brüstungen von Bauwerken gebraucht werden.)
Ein "price rise trajectory" wäre eine Preisanstiegskurve. In Fachsprachen ist keine Sprache vor Komposita gefeit.